SPERRFRIST: „Radikale“ Spintronik, PI Nr. 27/2025
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SPERRFRIST BIS DONNERSTAG, 27. MÄRZ 2025, 16:00 UHR MEZ
(11:00 UHR U.S. EASTERN TIME)
„Radikale“ Spintronik
Warum das Blatter-Radikal hochinteressant für die Spintronik ist: Ein internationales Forschungsteam um Elke Scheer (Universität Konstanz) tritt den Nachweis an – und löst „ganz nebenbei“ ein unverstandenes Rätsel der Physik
Bei den Datenspeichern, die wir in den kommenden Jahrzehnten benutzen werden, stehen die Chancen recht gut, dass sie auf Spintronik basieren werden. Spintronik soll eine schnellere und energieeffizientere Informationstechnologie ermöglichen und zugleich den nächsten Schritt der Miniaturisierung einleiten. Ein internationales Forschungsteam um die Konstanzer Physikerin Elke Scheer zeigte nun auf, dass das sogenannte Blatter-Radikal ein aussichtsreicher Kandidat für Spintronik-Technologien sein könnte. Aber was genau verbirgt sich dahinter?
Von Elektronik zu Spintronik
In der heutigen Informationstechnologie, zum Beispiel in Computern und Smartphones, wird die Information mittels Elektronen gespeichert und gesteuert. Klassischerweise wird hierfür die Ladung des Elektrons als Informationsträger herangezogen: Die Information („Null oder Eins“) wird also darin codiert, ob ein Kondensator aufgeladen ist oder nicht. Ein Problem unserer derzeitigen Technologie zeigt sich jedoch, wenn die Geräte immer kleiner werden sollen: „Alles, was mit Ladungstransport zu tun hat, erzeugt Wärme. Das verhindert, dass man weiter miniaturisieren kann“, nennt Elke Scheer klare physikalische Grenzen: Je kleiner die Systeme werden, desto empfindlicher reagieren sie auf Überhitzung, wodurch nicht nur die gespeicherte Information verloren gehen kann, sondern auch die Schaltkreise zerstört werden können.
Wer sich nun fragt, wie klein man das Ganze machen kann, für den hat die molekulare Spintronik eine gute Nachricht: Hier kann der Informationsträger so winzig wie nur ein einzelnes Molekül werden und die Information im Zustand eines einzelnen Elektrons speichern. Zugleich muss bei der Spintronik nicht etwa die Ladung transportiert werden, sondern eine andere Eigenschaft des Elektrons: „Elektronen haben nicht nur eine Ladung, sondern auch ein magnetisches Moment durch seinen Eigendrehimpuls, den sogenannten ‚Spin‘. Dieser hat immer dieselbe Größe, aber kann verschiedene Richtungen haben“, veranschaulicht Scheer.
Die Spintronik zieht also nicht nur die Ladung des Elektrons heran, um Information zu codieren und zu steuern, sondern auch seinen Spin. Der Vorteil: Man umgeht die Probleme des Ladungstransports wie die Wärmeentwicklung. Der Nachteil: Der Spin ist hochempfindlich und man braucht geeignete Materialien, die den Informationsgehalt verlässlich speichern und wiedergeben können. Welche davon besonders für Spintronik-Anwendungen geeignet sind, ist ein wichtiges Feld der Forschung. Untersucht werden verschiedene Festkörpermaterialien, aber auch Moleküle.
Ein Radikal für die Spintronik
Hier kommt nun das Blatter-Radikal-Molekül ins Spiel. Ein Radikal ist ein Atom oder Molekül mit einem freien Elektron. Genau dieses „freiliegende“ Elektron eignet sich hervorragend als Informationsträger der Spintronik. Das Problem ist nur, dass Radikale häufig sehr reaktiv sind: In den meisten Fällen geht das freie Elektron im Bruchteil einer Sekunde eine Bindung ein, wodurch das Molekül kein Radikal mehr ist – und die Information verloren geht. Gesucht ist also ein Radikal, das möglichst „stabil“ ist und auch unter ungünstigen Bedingungen ein Radikal bleibt.
Die Forschungsgruppe um Elke Scheer hat hierfür nun das Blatter-Radikal herangezogen. Dieses Radikal ist bereits seit Ende der 1960er-Jahre bekannt und ein beliebtes Modellsystem in der Chemie. „Das Blatter-Radikal ist robust und trotzdem vielseitig“, nennt Elke Scheer seine Vorzüge. „Es hat die Größe eines typischen Moleküls von wenigen Nanometern, ist also für die Miniaturisierung geeignet. Zudem ist seine Reproduzierbarkeit groß: Wenn man eins davon herstellen kann, kann man auch viele davon machen.“
Elke Scheer und ihre Kolleg*innen aus Deutschland, Belgien, China und den USA haben nun in Theorie und Praxis nachgewiesen, dass das Blatter-Radikal für die Spintronik gut geeignet ist. Sie unterzogen das Radikal sozusagen einem strengen Eignungstest. Dabei wiesen sie nach, dass die magnetische Information des Blatter-Radikals gut auslesbar und auch von außen über ein Magnetfeld steuerbar ist. Es bleibt zudem stabil, zerfällt nicht über die Zeit hinweg und behält seinen magnetischen Freiheitsgrad auch unter widrigen Umständen: „Obwohl wir es in Lösung gebracht haben, in Einzelmolekülstruktur oder mit Metall in Kontakt gebracht haben – all die Effekte, mit denen man normalerweise ein Radikal kaputt bekommt“, so Scheer. Das Forschungsteam schlägt das Blatter-Radikal als Modellsystem für die weitere Spintronik-Forschung vor sowie als aussichtsreiches Molekül für Spintronik-Technologien, zum Beispiel für Photodetektoren oder thermoelektrische Anwendungen.
Ein ungeklärtes Rätsel der Physik gelöst
Die Forscher*innen identifizierten jedoch nicht nur das Blatter-Radikal als geeignetes Material für die Spintronik, sondern lösten mit ihm „ganz nebenbei“ ein ungeklärtes Rätsel der Physik. In zahlreichen Experimenten der letzten Jahrzehnte stellten Forschende einen unerwarteten physikalischen Effekt bei elektrischen Schaltungen mit Radikal-Molekülen fest, nämlich einen sehr großen negativen Magnetowiderstand. Ein Magnetowiderstand bedeutet, dass der elektrische Widerstand vom Magnetfeld abhängt. Dieser Effekt wurde immer wieder bei Einzelmolekülkontakten aus Radikalen festgestellt, aber es gab keine Erklärung dafür.
Anhand des Blatter-Radikals konnte das Forschungsteam nun diese offene Frage klären: Der Magnetowiderstand in diesen Systemen ist eine Folge des sogenannten Kondo-Effekts, der in verschiedenen „Spielarten“ auftritt. Unter dem Kondo-Effekt versteht man eine Wechselwirkung der Leitungselektronen mit magnetischen Störstellen, die verschiedene Auswirkungen auf den Ladungstransport haben kann. Der übliche „Singulett“-Kondo-Effekt bewirkt eine charakteristische Kennlinie der Kontakte. In der seltener vorkommenden „Triplett“-Variante kann er jedoch, wie nun gezeigt wurde, auch zu einem negativen Magnetowiderstand führen.
Die Besonderheit der Blatter-Radikal-Kontakte ist, dass darin – anders als bei den Kontakten der meisten anderen untersuchten Radikal-Moleküle – beide Effekte auftreten und dass sie zwei Spielarten desselben Phänomens sind. „Das ist für mich das wesentliche Neue: dass die unverstandenen Experimente der Vergangenheit nun erklärt werden können“, zieht Elke Scheer ihr Fazit. Maßgeblich war hierfür die enge Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen der theoretischen Physik und Chemie. Mit diesem Wissen möchte das Forschungsteam nun die unverstandenen Experimente aus den vergangenen Jahren neu aufrollen, um ein vollständigeres Bild zu gewinnen.
Faktenübersicht:
- Sperrfrist bis 27. März 2025, 16 Uhr MEZ (11 Uhr U.S. Eastern Time)
- Originalpublikation: Gautam Mitra, Jueting Zheng, Karen Schaefer, Michael Deffner, Jonathan Z. Low, Luis M. Campos, Carmen Herrmann, Theo A. Costi and Elke Scheer, Conventional versus Singlet-Triplet Kondo Effect in Blatter Radical Molecular Junctions: Zero-bias Anomalies and Magnetoresistance, published in Chem (Cell Press)
- Beteiligte Einrichtungen: Universität Konstanz, Université Catholique de Louvain (Belgien), Xiamen University (China), Universität Hamburg, Columbia University New York (USA), Forschungszentrum Jülich
- Forschung im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB 767 „Controlled Nanosystems: Interaction and Interfacing to the Macroscale" (2008 bis 2019)
Hinweis an die Redaktionen:
Bilder stehen zum Download bereit:
1) https://www.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2025/radikale_spintronik_01.jpg
Bildunterschrift: Versuchsaufbau zur Erforschung des Blatter-Radikals: zwei Spitzen aus Goldatomen, zwischen denen ein einzelnes Molekül – das Blatter-Radikal – „eingeklemmt“ ist.
Copyright: AG Scheer, Universität Konstanz
2) https://www.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2025/radikale_spintronik_02.jpg
Bildunterschrift: Elke Scheer, Professorin für Mesoskopische Systeme an der Universität Konstanz
Copyright: Universität Konstanz/Inka Reiter
Kontakt: Universität Konstanz Kommunikation und Marketing E-Mail: kum@uni-konstanz.de
- uni.kn