Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung GmbH
Mit dem Seegras-Taxi unterwegs: Wie Foraminiferen von der Küste in die Tiefen des Roten Meeres gelangen
Mit dem Seegras-Taxi unterwegs: Wie Foraminiferen von der Küste in die Tiefen des Roten Meeres gelangen
Foraminiferen sind im Meer lebende Einzeller mit einer Schale aus Kalk. Sie liefern nicht nur Hinweise auf vergangene Lebensräume, sondern spielen auch eine wichtige Rolle bei der Sedimentbildung. Entlang tropischer und subtropischer Küsten leben benthische Großforaminiferen auf dem Meeresboden lichtdurchfluteter Flachwasserhabitate, oft haftend an Bruchstücken von Korallen oder an pflanzlichem Substrat. Im Ozean können sie lange Distanzen zurücklegen, indem sie sich an Seegräser oder Algen heften und über weite Strecken treiben lassen. Bisher wurde diese Reise per Anhalter – fachlich als ‚Rafting‘ bezeichnet – jedoch kaum wissenschaftlich dokumentiert.
Während einer Expedition des Forschungsschiffs METEOR im Roten Meer machte ein internationales Team mit der Meereswissenschaftlerin Marleen Stuhr vom Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) einen Fund, der diesen Transportmechanismus nun für diese Region belegt.
In einem über 600 Meter tief gelegenen submarinen Salzsee des Roten Meeres entdeckten die Forschenden gut erhaltene Seegräser mit daran haftenden Foraminiferen der Gattungen Amphistegina, Sorites und Amphisorus, die sonst nicht tiefer als 100 Meter vorkommen. Sie waren sozusagen ‚Huckepack‘ mit dem Seegras dorthin transportiert worden. Die Entdeckung wurde jüngst im renommierten Fachjournal Scientific Reports beschrieben. Sie zeigt, wie sich auch kleinste benthische marine Arten über weite Strecken verbreiten können.
Im Herbst 2023 war das FS METEOR auf einer vierwöchigen Expedition (M193) im Roten Meer unterwegs, um neue Erkenntnisse zur Entstehung und Ablagerung von Karbonaten in den Tiefen vor der saudi-arabischen Küste zu gewinnen. An Bord waren neben den ZMT-Wissenschaftlerinnen Marleen Stuhr und Hildegard Westphal außerdem Forschende der Universität Hamburg, der King-Abdullah-Universität für Wissenschaft und Technologie (KAUST), des Cnr-Istituto di Scienze Marine (ISMAR-CNR) in Bologna, sowie ein Team für Tauchfahrzeuge des MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen.
Während der Ausfahrt sicherte das Forschungsteam umfangreiche Sedimentproben und begann bereits an Bord mit deren Untersuchung. In Proben aus Tiefen von 400 bis 1.000 Metern entdeckten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Reste von benthischen Großforaminiferen, die sonst eigentlich im tropischen bis subtropischen Flachwasser bis etwa 30 Metern Tiefe gedeihen.
„Wir fanden regelmäßig vereinzelte Kalkschalen von Foraminiferen in unseren Sedimentproben aus diesen Tiefwasserbereichen, die 25 bis 50 Kilometer entfernt von den Flachwasserhabitaten lagen, in den diese Arten eigentlich leben“, erzählt Marleen Stuhr, Senior Scientist am ZMT und Erstautorin der Publikation.
„Wir überlegten, wie die Foraminiferen so weite Strecken zurücklegen konnten. Eine Idee war, dass sie durch Anhaften an Seegras oder Makroalgen an der Meeresoberfläche treibend, das sogenannte ‚Rafting‘, transportiert wurden“, ergänzt Hildegard Westphal, Leiterin der Arbeitsgruppe Geoökologie und Karbonatsedimentologie am ZMT und Co-Chief-Scientist der Expedition.
Überraschender Fund am Ende der METEOR-Ausfahrt belegt Hypothese
Einen konkreten Beleg für diese Hypothese gab es allerdings nicht, bis den Forschenden ein erstaunlicher Fund in die Hände spielte.
Kurz vor Ende der Expedition steuerte das FS METEOR einen kaum bekannten untermeerischen Salzsee im Roten Meer an. „Auf dem Weg zum Hafen von Dschidda machten wir als letzte Station Halt vor der Küstenstadt Umluj, um den dortigen submarinen Salzsee zu beproben“, so Fahrtleiter Thomas Lüdmann, Geologe von der Universität Hamburg.
Als diese Sedimentproben an Deck kamen, gab bereits der strenge Geruch dem Team entscheidende Hinweise. „Wasser und Sediment aus diesem submarinen Salzsee rochen extrem stark nach Schwefel, waren sehr salzig und offensichtlich frei von jeglichem Sauerstoff“, beschreibt Marleen Stuhr die Proben. „Biologische Prozesse, die normalerweise organisches Material zersetzen, waren dadurch extrem verlangsamt.“
Für die Forschenden steckte in dieser Probe eine einzigartige Aufzeichnung der Sedimentationsgeschichte, von der sie sich neue Erkenntnisse zur Karbonatsedimentation im Umluj-Salzsee erhofften.
Zur Überraschung des Teams kamen beim Sieben des feinen Sediments sehr gut erhaltene Seegrasblätter und -wurzeln sowie Makroalgenreste zum Vorschein, an denen auch Foraminiferen hafteten. Das Ungewöhnliche daran: Diese benthischen Großforaminiferen (z.B. Sorites spp.) kommen, ebenso wie die vorherigen Funde, normalerweise nur in Flachwasserbereichen vor – meistens bis zu einer Tiefe von 30 Metern.
Marleen Stuhr erinnert sich: „Bei früheren Forschungsaufenthalten am nördlichen Roten Meer hatte ich im flachen Wasser schon häufiger Foraminiferen beobachtet, die an Seegras hafteten. Es waren genau dieselben Arten, die wir nun per Zufall in unseren Sedimentproben aus der Tiefsee entdeckt hatten. Der Fund im submarinen Salzsee von Umluj bestätigte somit unsere Annahme. Die Foraminiferen waren durch passives Treiben mit dem Seegras, also quasi ‚Huckepack‘, in die Tiefe transportiert worden.“
„Unsere Entdeckung zeigt, dass marine Organismen durch ‚Makrophyten-Rafting‘, also Anhaften an Seegras und Algen verdriften können. Damit können sie potentiell auch neue Habitate erreichen, oder wie in unserem Fall, aus flachen Zonen in die Tiefsee geraten, wo sie in Tiefseesedimenten als ökologischer Fremdkörper abgelagert werden“, erläutert Hildegard Westphal.
Einige der von den Forschenden im Roten Meer gefundenen Foraminiferen (z.B. Amphistegina lobifera) wurden in den vergangenen Jahren als invasive Arten im Mittelmeer beobachtet. Gleichzeitig mit den Großforaminiferen verbreitet sich dort auch die invasive tropische Seegrasart Halophila stipulacea.
„Dass beide Gruppen, Seegras und Foraminiferen, vom Roten Meer in das Mittelmeer gelangt sind und sich dort rapide ausbreiten, legt nahe, dass ‚Rafting‘-Mechanismen eine Rolle bei der Verbreitung von Flachwasserorganismen spielen und auch zur Verbreitung invasiver Arten beitragen können“, schlussfolgert Marleen Stuhr.
Link zu Publikation:
Stuhr, M., Westphal, H., Marchese, F. et al. Seagrass-rafted large benthic foraminifera transported into the deep Red Sea. Sci Rep 15, 5724 (2025). https://doi.org/10.1038/s41598-025-90047-7
Fragen beantworten:
Dr. Marleen Stuhr | AG Geoökologie und Karbonatsedimentologie
Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT)
E-Mail: marleen.stuhr@leibniz-zmt.de
Prof. Dr. Hildegard Westphal | AG Geoökologie und Karbonatsedimentologie
Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT)
E-Mail: hildegard.westphal@leibniz-zmt.de
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