Englisch- und Deutschsprechende nehmen Bewegungen unterschiedlich wahr
Englisch- und Deutschsprechende nehmen Bewegungen unterschiedlich wahr
Wie Menschen Bewegungen wahrnehmen und beschreiben, ist nicht nur eine Frage individueller Beobachtung - auch die Muttersprache spielt eine Rolle. In ihrer an der Universität Kassel entstandenen Dissertation „The Representation of Motion Events in English and German“ (2024), untersucht Dr. Katharina Zaychenko, wie englische und deutsche Muttersprachlerinnen und Muttersprachler Bewegungen unterschiedlich verarbeiten. Ihre Erkenntnisse haben Auswirkungen auf den Fremdsprachenerwerb sowie die Sprachdidaktik.
Unterschiedliche Perspektiven auf Bewegungsereignisse
Bewegungen wie Laufen, Fahren oder Gehen sind komplexe Handlungen, die je nach Sprache und Kultur unterschiedlich beschrieben werden. Die Darstellung einer Bewegung, etwa von Punkt A nach Punkt B, umfasst verschiedene Komponenten: Start- und Endpunkt, Dauer und Richtung. Zaychenko analysiert, wie diese Elemente in Englisch und Deutsch repräsentiert werden und welche kognitiven Prozesse dabei eine Rolle spielen.
Theoretisch basiert ihre Arbeit auf der Annahme, dass Muttersprachlerinnen und Muttersprachler von Aspektsprachen wie Englisch Bewegungsereignisse tendenziell prozesshaft wahrnehmen, während Sprecherinnen und Sprecher von Nicht-Aspektsprachen wie Deutsch stärker den Endpunkt fokussieren. Diese These ist in der Forschung weit verbreitet.
Methodik und Ergebnisse
Mithilfe von Korpusanalysen, Online-Umfragen und experimentellen Methoden – darunter Ähnlichkeitsurteile mit verbaler Interferenz sowie Maus-Tracking-Studien – analysierte Zaychenko deutsche Muttersprachlerinnen und Muttersprachler mit unterschiedlichem Englisch-Niveau. Dabei verglich sie verschiedene Korpusdatensätze von deutschen und englischen Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern sowie von Englischlernenden, insbesondere hinsichtlich zentraler Bewegungsmerkmale wie der Markierung von Andauer und Endpunkten.
Die Ergebnisse bestätigen: Während englische Sprecherinnen und Sprecher Bewegungsereignisse stärker als fortlaufende Prozesse wahrnehmen und betonen – unter anderem durch den Gebrauch progressiver Verbformen –, bleibt der Endpunkt oft unbeachtet (z. B. He is walking towards the park, – der Fokus liegt auf dem Vorgang des Gehens, nicht darauf, ob oder wann der Park erreicht wird). Im Deutschen hingegen rückt das Endziel durch den Einsatz zielgerichteter Präpositionen stärker in den Fokus (z. B. Er geht zum Park - hier wird deutlich, dass das Betreten des Parks das Ziel der Bewegung ist).
Diese Unterschiede sind nicht zufällig, sondern resultieren aus den spezifischen grammatischen Strukturen der beiden Sprachtypen: Aspektsprachen wie Englisch verfügen über grammatische Markierungen, die explizit kennzeichnen, ob eine Handlung noch andauert oder bereits abgeschlossen ist. Dadurch betonen englische Sprecherinnen und Sprecher den Bewegungsprozess. Nicht-Aspektsprachen wie Deutsch haben keine solche Markierung; hier ergibt sich die zeitliche Perspektive eher aus dem Kontext, der Wahl bestimmter Präpositionen oder der Verbform. Da das Deutsche keinen grammatischen Aspekt kennt, liegt der Fokus stattdessen stärker auf dem Endpunkt der Bewegung.
Herausforderungen beim Fremdsprachenerwerb
Diese sprachspezifischen Unterschiede erschweren es Lernenden, Bewegungsabläufe korrekt zu verbalisieren. So haben deutschsprachige Englischlernende häufig Schwierigkeiten, den grammatischen Aspekt intuitiv anzuwenden, da dieses Konzept in ihrer Erstsprache nicht existiert. Zudem beeinflussen kognitive Faktoren wie die Wahrnehmung von Bewegungsendpunkten und die mentale Belastung beim Erlernen neuer Strukturen den Spracherwerb.
„Der Sprachunterricht sollte daher nicht nur auf die Vermittlung von Vokabeln und Grammatik abzielen, sondern auch die kognitiven Prozesse berücksichtigen, die hinter der Sprachproduktion stehen“, erklärt Zaychenko.
Praktische Implikationen für den Sprachunterricht
Die Ergebnisse der Studie liefern konkrete Ansätze für den Fremdsprachenunterricht. Lehrkräfte können gezielt auf typische Lernhürden eingehen und durch spezielle Übungen helfen, sprachspezifische Wahrnehmungsunterschiede zu überbrücken. So können gezielte Trainings zur Beschreibung von Bewegungsereignissen das Verständnis fremdsprachlicher Strukturen verbessern und deren Anwendung erleichtern.
„Indem wir die kognitiven Herausforderungen beim Zweitspracherwerb besser verstehen, können wir den Sprachunterricht effektiver gestalten und gezielt auf die Bedürfnisse der Lernenden eingehen“, so Zaychenko.
Über die Forscherin
Katharina Zaychenko studierte Englisch und Biologie auf Lehramt an der Universität Kassel und schloss ihr Erstes Staatsexamen 2019 ab. Im Anschluss forschte sie im Bereich der kognitiven und angewandten Linguistik und stellte ihre Ergebnisse auf internationalen Konferenzen vor. Derzeit ist sie als Studienrätin an einer weiterführenden Schule in Kassel tätig.
Die vollständige Studie finden Sie hier.
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