Warum Streit eine wichtige Rolle für die Gesellschaft spielt – Streitforscher im Interview
Im Interview erklärt Streitforscher Dr. Christian Boeser von der Universität Augsburg, warum Streit eine wichtige Rolle für die Gesellschaft spielt – und gibt Tipps, wie man gutes Streiten lernen kann. Er ist Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Pädagogik mit Schwerpunkt Erwachsenen- und Weiterbildung der Universität Augsburg.
Welche Rolle spielt der Streit in unserer Gesellschaft?
Dr. Christian Boeser: Die grundsätzliche Problematik ist: Wir müssen streiten, damit unsere Gesellschaft funktioniert. Gleichzeitig ist Streit oftmals negativ konnotiert. Dies hängt damit zusammen, dass viele Menschen Angst vor feindseligem Streit haben und Streit deshalb lieber vermeiden. Wenn man Streit jedoch dauerhaft vermeidet, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass man irgendwann platzt und es dann zu einem feindseligen Streit kommt.
Dies haben wir auch in einer Bürgerbefragung herausgefunden, die ich mit Studierenden durchgeführt habe: 50 Bürgerinnen und Bürger wurden befragt, was sie über Streit denken. Es wurde ein Gedankenexperiment durchgeführt zu der Frage, was passieren würde, wenn wir gar nicht mehr streiten und was passieren würde, wenn nur noch feindselig gestritten werden würde.
Foto: Andreas Keilholz
Interessant ist, dass die Streitvermeidung zu den gleichen Effekten führen würde wie das Szenario, wenn man nur noch feindselig streitet – beide Szenarien machen auf Dauer unzufrieden, verhindern Kreativität, schädigen soziale Beziehungen und schwächen den Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Würden Sie sagen, Streiten ist wichtig?
Boeser: Unbedingt! Sowohl privat als auch beruflich und gesamtgesellschaftlich. Das würde sonst nicht lange gut gehen.
Wie geht das – richtig streiten?
Boeser: Diese Frage haben wir in unseren Interviews auch gestellt, und es gibt dazu sehr unterschiedliche Meinungen. Die einen sagen, man sollte niemals zerstritten auseinandergehen, die anderen finden das nicht problematisch. Mancher gab an, nur sachlich zu streiten – dies kann schwierig sein, wenn es um emotional berührende Themen geht. Es gibt viele Spannungsfelder bezogen auf das „richtige“ Streiten. Was als richtig empfunden wird, hängt von der Situation und dem Gegenüber ab. Wichtig ist, beim Streiten ein Interesse für den anderen zu haben, sich zu zeigen mit den eigenen Bedürfnissen, aber auch Grenzen. Wir nennen das „Denken in Dilemmata“, ein Sowohl-als auch von sachlicher Argumentation, sich aber auch als Mensch mit seinen Emotionen zu zeigen. Hier gilt es, eine Balance zu finden. Beim Streiten reagieren wir aufeinander, es kann leicht zu Wechselwirkungen kommen: Ich interpretiere ein Verhalten, ein Stirnrunzeln, das vielleicht gar nicht negativ gemeint war.
Wichtig ist auch, sich ein Scheitern zuzugestehen. Es genügt oft, wenn ich den anderen nach dem Streit ein bisschen besser verstehe und nachvollziehen kann, worum es ihm geht. Dazu brauchen wir Großherzigkeit Fehlern gegenüber. Denn beim Streiten gibt es kein objektives „Richtig“.
Was ist, wenn das Streiten überhandnimmt?
Boeser: Das Austragen von Meinungsverschiedenheiten auf Dauer ist sicherlich nicht schön. Gleichzeitig geht es nicht ohne Streit. Wie ein Streit empfunden wird, hängt vom einzelnen Menschen ab. Manche empfinden schon kleine Auseinandersetzungen als feindseligen Streit, andere sind weniger davon berührt.
Kann man Streiten lernen?
Boeser: Streiten lässt sich lernen, indem man es immer wieder übt. Und: Man kann trotz eines erlebten Streits wieder zueinander finden. Was man braucht, ist ein grundsätzliches Vertrauen und das Wissen darüber: Ich kann in den Diskurs gehen und es funktioniert meistens ganz gut. Falls nicht, habe ich die Fähigkeit, es erneut zu versuchen. Eine Möglichkeit ist, sich biographisch mit dem Thema Streit auseinanderzusetzen und die eigenen Glaubenssätze zu hinterfragen. Denn andere Menschen haben oft andere Glaubenssätze. Ein Weg kann auch sein zu lernen, zuzuhören, worum es dem anderen geht. Und eine gewisse Ambiguitätstoleranz kann hilfreich sein, um die Spannungen auszubalancieren.
Mit dem Projekt „Streitförderer“ gehen wir genau diese Frage an, nämlich besser zu streiten als gesellschaftliche Aufgabe anzusehen.
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