Neue Preisanstiege drohen, Marktkommentar von Dieter Kuckelkorn
Frankfurt (ots)
Die Preise der Energieträger Erdgas und Erdöl befinden sich derzeit auf einem zumindest im kurzfristigeren Vergleich niedrigen Niveau. Brent Crude notierte vor dem Wochenende deutlich unter der Marke von 90 Dollar je Barrel, was gegenüber dem Jahreshoch von fast 140 Dollar einen Rückgang von 38 % ausmacht. Am europäischen Spotmarkt für Erdgas wird der Monatskontrakt zu 110,76 Euro je Megawattstunde gehandelt, gegenüber dem Jahreshoch von fast 350 Euro ist sogar ein Rückgang von fast 70 % festzustellen.
Trotz der zu beobachtenden Entspannung auf dem Energiemarkt ist es viel zu früh, von einem Ende der europäischen Energiekrise zu sprechen. Das gegenwärtige Preisniveau liegt immer noch sehr deutlich über dem, was in den vergangenen Jahren üblich war. So notierte beispielsweise Erdgas bis in den Sommer 2021 hinein unterhalb von 20 Euro je Megawattstunde. Bezogen auf diese Marke hat sich der Preis auch auf dem gegenwärtigen Niveau also mehr als verfünffacht. Vor allem aber sind bereits jetzt neue kräftige Preisanstiege am Horizont zu erkennen.
Gegenwärtig sind die europäischen Gasspeicher praktisch zu 100 % gefüllt und das Wetter war im Herbst in weiten Teilen Europas recht milde, was für einen recht niedrigen Verbrauch sorgte. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass ein größerer Teil des in den europäischen Speichern befindlichen Erdgases noch aus Russland stammt. Aufgrund der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines und der Boykottinitiativen der EU steht das über die Rohrleitungssysteme transportierte preisgünstige russische Gas aber nun nicht mehr zur Verfügung.
Verflüssigtes Erdgas, auf das die EU für die Zukunft angewiesen ist, ist jedoch ein knappes Gut, unter anderem wegen der ebenfalls hohen Nachfrage aus Asien, wobei aber auch die weltweite Tankerflotte von weniger als 600 Einheiten einen Engpass darstellt. Die Internationale Energieagentur IEA sieht jedenfalls allen Grund, Alarm zu schlagen: "Wir läuten für das nächste Jahr die Alarmglocken für die europäischen Regierungen und für die Europäische Kommission", sagte IEA-Chef Fatih Birol bei der Vorstellung einer Studie zur Lage der europäischen Gasversorgung im nächsten Winter. Die IEA sagt eine riesige Versorgungslücke von bis zu 30 Mrd. Kubikmetern voraus, was dazu führen könnte, dass die Gasspeicher vor dem Winter 2023/24 nur zu 65 % gefüllt sein könnten. Damit wäre es undenkbar, dass Europa den Winter übersteht. Es ist auch zu erwarten, dass die europäischen Gaspreise wieder durch die Decke gehen, sobald sich diese Perspektive klar abzeichnet. Zu verhindern ist dies kaum, die Vorschläge der IEA dazu wirken dürftig: die stärkere Einsparung von Energie, noch mehr Einsatz von regenerativen Energien und "Verhaltensänderungen". Selbst eine Aufgabe der Sanktionen gegen Russland würde das Problem kaum lösen, mit Blick auf die verloren gegangenen Pipeline-Kapazitäten.
Bei Erdöl könnte ein heftiger Preisanstieg noch deutlich früher kommen, nämlich bereits im Dezember. Klar ist jedenfalls, dass das am 5. Dezember in Kraft tretende europäische Importverbot für russisches Öl und die zwangsweise Preisobergrenze für per Tankschiff transportiertes russisches Öl, die die G7-Länder durchsetzen wollen, den globalen Ölmarkt durcheinanderwirbeln und für eine Neuorientierung der Lieferbeziehungen sorgen werden. Im Extremfall, bei einer nicht zu erwartenden hundertprozentigen Wirksamkeit der Sanktionen, würden dem Ölmarkt 4,5 Mill. Barrel pro Tag (bpd) an russischem Öl entzogen. Aktuell rechnet die Energieagentur damit, dass Russland seine Ölförderung aber nur um 1,4 Mill. bpd reduzieren muss, was aber nach wie vor deutliche Spuren auf dem globalen Ölmarkt hinterlassen dürfte. So wird ein Brent-Ölpreis jenseits der 100 Dollar kaum zu vermeiden sein.
Hauptleidtragende ist auch hier wieder die Europäische Union, deren Krise sich verschärfen dürfte, muss sie nach Schätzungen der IEA doch 1 Mill. bpd an Rohöl und 1,1 Mill. bpd an Ölprodukten ersetzen. Angesichts der bereits jetzt ausgeprägten Knappheit wird das insbesondere bei Diesel schwierig. Der für die weltweite Logistik unersetzbare Treibstoff ist bereits jetzt um 50 % teurer als vor einem Jahr.
Die gegenwärtige Entspannung an den europäischen Energiemärkten sollte also nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass in der europäischen Energiekrise das Schlimmste bereits überstanden sei. Die eigentliche Herausforderung kommt erst im nächsten Winter.
(Börsen-Zeitung, 19.11.2022)
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