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Börsen-Zeitung: Goldwaage und Gebetsmühle, Kommentar von Jürgen Schaaf zur Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB)

Frankfurt (ots)

Trocken, unspektakulär, wie erwartet. Die
Marktbeobachter schäumten nicht gerade über vor Begeisterung, als sie
den Auftritt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB)
bewerten, der gestern mitteilte, dass die Notenbank vorerst alles
beim Alten beließe. Und Jean-Claude Trichet macht keinen Hehl daraus,
dass er den Medienzirkus für unangemessen hält. Denn: Verantwortung
für stabiles Geld ist ein ernste Angelegenheit. Und eine ganze
Batterie von Analysten, Händlern und Journalisten hängt an den Lippen
des Präsidenten, wenn er sich öffentlich äußert. Eine unbedachte
Bemerkung kann großen Schaden anrichten, denn jedes einzelne Wort
wird auf die Goldwaage gelegt. Da liegt es nahe, in den offiziellen
Statements Vorsicht walten zu lassen – insbesondere dann, wenn die
Gefechtslage nicht völlig klar ist.
Im Moment sieht es so aus, als entwickle sich die Konjunktur im
Euroraum so erfreulich, wie es die Auguren der Notenbank bereits im
Dezember erwartet hatten. Gleichzeitig droht der hohe Ölpreis in die
Verbraucherpreise weitergereicht zu werden. Entsprechend sollte der
Fuß der Zentralbanker ein wenig vom Gas genommen werden. Schließlich
ist die Stimulanz durch die Geldpolitik nur für konjunkturelle
Schwächephasen gedacht. Sind die überwunden, muss sie zurückkehren
auf neutrales Niveau. Insofern ist angebracht, von weiteren
Zinserhöhungen auszugehen. Außerdem teilte Trichet durch die Blume
mit, dass die Märkte ihn zu letzt gut verstanden hätten: Sie erwarten
eine weitere Erhöhung bis zum März.
Völlig unverblümt kann er aber doch nicht die nächsten Schritte
ankündigen. Denn das positive Szenario ist nicht frei von Risiken.
Sollte die Konjunktur in den USA deutlich abkühlen und der private
Verbrauch in der Eurozone noch nicht angesprungen sein, könnte die
erhoffte steife Brise schnell zum lauen Lüftchen verkommen.
Im März liegen die neuen Projektionen der EZB-Volkswirte vor. Dann
wird man sehen, ob der Aufschwung trägt und wohin die weitere
zinspolitische Reise geht. Bis dahin hält sich die EZB noch ein
Hintertürchen offen, flexibel auf konjunkturelle Rückschläge zu
reagieren. Diese Besonnenheit wird der hohen Verantwortung ihres
Mandats gerecht. Deshalb macht es auch nichts, wenn in den
Erläuterungen mal die Gebetsmühle gedreht wird.
(Börsen-Zeitung, 13.1.2006)

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