Rheinische Post: Die SPD - so mächtig waren Verlierer nie = Von Michael Bröcker
Düsseldorf (ots)
Politik paradox. Die SPD hat am vergangenen Sonntag das zweitschlechteste Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik eingefahren. Und das, ohne eine Agenda 2010 oder ähnliche schmerzvolle Reformen durchgeführt zu haben. Die SPD konnte sich in der Opposition von umstrittenen Beschlüssen befreien und gegen eine bisweilen stümperhaft agierende Koalitionsregierung argumentieren. Im Jahr ihres 150. Parteijubiläums reicht es dann trotzdem nur für 25 Prozent? Ein mittelschweres Desaster. Der angeblich so wirkungsvolle Haustür-Wahlkampf? Fehlanzeige. Der angeblich so grandiose Schlussspurt? Verpufft. Und was macht die SPD-Spitze? Sie lässt sich umjubeln als hätte sie gerade die absolute Mehrheit geholt. In der Bundestagsfraktion gab es gestern stehende Ovationen für Peer Steinbrück. So viel Realitätsverweigerung war selten in der Politik. Während in anderen Parteien die Rücktritte im Stundentakt erfolgen, setzt bei der SPD nicht einmal eine kritische Analyse des Wahlergebnisses ein. Dabei wäre es doch interessant zu erfahren, ob man sich in wirtschaftlich guten Zeiten als Volkspartei auf die Ränder der Gesellschaft konzentrieren und dabei die Mitte außer Acht lassen sollte. Wo ist die optimistische Fortschritts-SPD, die Partei der Bildungschancen und des Aufstiegsversprechens geblieben? Lieber wurde das Zerrbild einer Armutsrepublik gezeichnet und einem Kandidaten ein Programm aufgedrückt, dass der vor vier Jahren noch lachend in die Ecke geworfen hätte. Und doch ist die SPD derzeit die mächtigste politischste Kraft. Weil Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Union so dringend einen Partner brauchen und die Grünen es nach einem ehrlichen Blick auf das Programm eigentlich kaum sein können, hat die SPD fast unbegrenzte Verhandlungsmacht für die große Koalition. Ein gesetzlicher Mindestlohn, ein höherer Spitzensteuersatz, höhere Sozialversicherungsbeiträge, neue Milliarden für Rente, Pflege und Kitas. Die Deutschen mögen Angela Merkel gewählt haben, am Ende werden sie ziemlich viel Sigmar Gabriel bekommen. Zugleich pochen die Sozialdemokraten auf Kernressorts, etwa das Finanz- oder das Arbeitsministerium. So könnte die als Generalsekretärin gescheiterte Andrea Nahles bald als Ministerin einen 120-Milliarden-Euro-Etat verantworten. Politik paradox? Nur bedingt. Wer keine Mehrheit hat, muss sie sich eben suchen. Zu wünschen wäre diesem Land aber, dass die Sozialdemokraten bald die Taktik beiseitelegen und an den Verhandlungstisch gehen. Deutschland braucht ein anspruchsvolles, mutiges politisches Programm für die kommenden vier Jahre.
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