VDA - Verband der Automobilindustrie e.V.
VDA-Präsidentin Hildegard Müller: "Wir wollen jetzt beweisen, dass Klimaschutz und Transformation der Autoindustrie erfolgreich sind"
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Berlin (ots)
Der Verband erwartet in diesem Jahr eine Steigerung des Inlandsmarkts um 7 Prozent auf 2,8 Millionen Neuwagen, wird aber wohl deutlich unter den Neuzulassungen vor der Pandemie bleiben
EXKLUSIV-INTERVIEW MIT HILDEGARD MÜLLER
Anmoderation:
Die internationalen Automobilmärkte haben ein turbulentes Jahr hinter sich. Die Corona-Krise hat sich auch im zweiten Jahr massiv auf die Branche ausgewirkt. Gleichzeitig ist die Transformation hin zu einer klimaneutralen Mobilität in vollem Gange. Die Herausforderungen für die Hersteller und Zulieferer sind gewaltig, die Ziele gesetzt, jetzt geht es um die konkrete Umsetzung, betonte Hildegard Müller Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) heute bei der digitalen Jahrespressekonferenz. Wir haben uns vorab mit ihr unterhalten:
1. Frau Müller, die Automobilindustrie befindet sich mitten in der Transformation hin zu einer klimaneutralen Mobilität. Sie fordern "mehr Geschwindigkeit". Was bedeutet das konkret?
Ja, wir haben einen umfassenden Paradigmenwechsel in der Industriepolitik: ein Ende der Debatten um Klimaziele und jetzt die konkrete Umsetzung des Beschlossenen. Und dabei ist wichtig, dass Klima und Industriepolitik zusammengeführt werden, denn das ist richtig und auch gut so. Und deshalb haben alle Branchen ambitionierte und umfangreiche Transformationsprogramme aufgelegt. Auch wir treiben das natürlich engagiert voran: über 220 Milliarden Euro Investitionen in den nächsten Jahren bis 2026. Und natürlich haben wir auch die Verantwortung für die Beschäftigten. Jeder zehnte Arbeitsplatz in Deutschland hängt an der Autoindustrie. Das sind rund vier Millionen Beschäftigte, in der Autoindustrie direkt rund 800.000. Das heißt, wir sind Wirtschaftsmotor, aber natürlich auch verantwortlich für viele in diesem Land. Und wir wollen jetzt beweisen, dass Klimaschutz und Transformation der Industrie erfolgreich sind. Aber auch der Staat muss seine Hausaufgaben machen. (0:48)
2. Sie sprechen von einer neuen Ära, in der es in Sachen Klimaneutralität nicht mehr um das ob, sondern um das wie geht. Es geht jetzt um die Umsetzung. Werden Klima- und Industriepolitik also zusammengeführt?
Auf jeden Fall, denn die Regierung muss eine Klimapolitik verfolgen, die gleichzeitig Wirtschafts-, Wohlstands- und Jobmotor ist. Denn dann wird es auch international ein Erfolgsmodell und das Gleichgewicht ist, glaube ich, dabei wichtig. Erfolgreiche Klimapolitik ist auch eine erfolgreiche Industriepolitik und umgekehrt. Wir können nicht ohne Industrie, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Das ist ganz entscheidend für Wachstum und Wohlstand. Und wenn wir das verlieren würden, würden wir auch für andere Regionen kein Vorbild sein. Und deshalb müssen wir jetzt Ideenschmiede sein. Und auch natürlich in Deutschland und Europa weiter produzieren. Standortbedingungen sind dafür entscheidend und die werden leider gerade schlechter statt besser in vielen Punkten: die Planungs- und Genehmigungsverfahren, die Abgaben, Steuern und Umgabenlasten, die Kosten der Energieversorgung und viele andere Themen mehr, die hier zu benennen sind. Und deshalb müssen wir jetzt im wahrsten Sinne des Wortes alle die Ärmel hochkrempeln. (0:50)
3. Welche Rolle übernimmt die deutsche Automobilindustrie in diesem Prozess?
Wir nehmen den Auftrag an. Wir sehen uns als Treiber, wir wollen Veränderung auch vorleben. Die Hersteller und Zulieferer der deutschen Automobilindustrie investieren deshalb in die Innovationen Elektromobilität, Batterien, Digitalisierung und andere Forschungsfelder. Und der Umbau von Werken kommt noch hinzu. Das ist einzigartig weltweit. Und mit diesen Rekordausgaben für Forschung und Entwicklung liegen wir auch ganz weit vorne und sind deshalb auch nicht zu Unrecht Patentweltmeister. Und deshalb wollen wir in dieser Geschwindigkeit, in diesem Tempo natürlich weitermachen. Aber wie gesagt, wir haben natürlich auch immer unsere Beschäftigten im Blick und wollen auch dort Verantwortung übernehmen. Das heißt auch dort: Transformation und Beschäftigungssicherung sind wichtige Themen. (0:40)
4. Bis 2030 sollen 15 Millionen E-Autos auf deutschen Straßen fahren. Ist das zu schaffen?
Ja, das ist in der Tat ein sehr ambitioniertes Ziel, vor allem wenn es wirklich nur rein Elektrische sein sollten. Das würde, wenn man es herunterbricht, heißen, dass wir ab diesem Jahr statistisch gesehen jedes zweite Auto elektrisch zulassen müssen. Das beschreibt, glaube ich, wie ambitioniert der Hochlauf ist. Im letzten Jahr hatten wir noch ein Viertel Elektroautos, aber zum Beispiel inklusive der Hybridautos. Das geht natürlich nicht, ohne dass auch Rahmenbedingungen funktionieren. Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen natürlich diese Elektromobilität auch annehmen. Und dazu gehört auch die Sicherheit, überall und an jedem Ort laden zu können. (0:24)
5. Was sind die größten Hürden, um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen?
Die Geschwindigkeit des Hochlaufs der Elektromobilität ist viel dynamischer als die des Ausbaus der Ladeinfrastruktur. Hier müssen wir unsere Anstrengungen versiebenfachen, um die Ziele Ausbau der Ladeinfrastruktur auf eine Million Ladepunkte bis 2030, genau wie die 15 Millionen Elektroautos, zu erreichen. Das heißt, wir müssen hier viel schneller werden. Und deshalb fordern wir einen Lade-Gipfel, in dem auch alle Beteiligten an einen Tisch kommen, um entscheidende Probleme aus dem Weg zu räumen, schnelleren Netzausbau, gute Energieversorgung, erneuerbare Energien, aber auch: Wie machen wir das in Mietwohnungen? Wie machen wir das bei Parkhäusern? Wie machen wir das dort, wo große Arbeitgeber sind? Also alle Beteiligten an einen Tisch, sonst wird der Verbraucher das Thema nicht annehmen. (0:39)
6. Sie haben vor kurzem in einem Interview davon gesprochen, dass die Autoindustrie in überlasteten Innenstädten für eine verkehrs- und autoärmere Zukunft steht. Das hat viele überrascht...
Naja, die Mobilität der Zukunft ist doch ein Gemeinschaftsprojekt. Und dazu gehört, dass Dialog und die Überwindung von alten Feindbildern für uns alle Grundvoraussetzung ist für eine erfolgreiche Transformation. Die Autoindustrie will genau das und deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass nach unserer Auffassung überlastete Innenstädte autoärmer werden sollen. Zum Beispiel über konkrete Lösungen: Carsharing, White Pooling, vernetzte Autos, Automated Valet Parking und viele Dinge mehr. Wichtig ist dabei aber, dass wir an den Lebensrealitäten bleiben. Dass wir die Verbraucherinnen und Verbraucher auch einbeziehen. Und deshalb wollen wir auch als Vermittler auftreten, die unterschiedlichen Lebensrealitäten und Ansprüche an einen Tisch bringen und weg von Ideologie und hin zu einer erfolgreichen Transformation, aus Sicht aller Beteiligten, die auch die sozialen Komponenten mit einbezieht. (0:46)
7. Lassen Sie uns noch kurz über das vergangene Jahr sprechen. Es war ein turbulentes Jahr für die internationalen Automobilmärkte. Wie ist es der deutschen Automobilindustrie 2021 ergangen?
Ja, es war tatsächlich ein turbulentes Jahr. Während in der ersten Jahreshälfte noch aufgrund von Nachholeffekten teilweise deutliche Zuwächse realisiert werden konnten, war in der zweiten Jahreshälfte doch ein deutlich negatives Bild. Warum war das so? Insbesondere der Mangel an Halbleitern strapazierte die weltweiten Lieferketten und daneben machten auch Knappheiten bei weiteren Vorprodukten und Rohstoffen und steigende Preise für Energie, für Logistik der Industrie sehr zu schaffen. Von den drei größten Absatzregionen musste im Gesamtjahr 2021 Europa als einziger einen Rückgang verbuchen. In den Vereinigten Staaten und in China legte der Absatz hingegen leicht zu und deshalb steht im Ergebnis der Weltmarkt im vergangenen Jahr um 4 Prozent im Anstieg. (0:45)
8. Und wie sieht es momentan aus?
Aktuell ist es so, dass wir hohe Auftragseingänge und -bestände haben. Es zeigt sich eine deutlich stärkere Nachfrage. Letztere ist jetzt so hoch - im Übrigen wie seit dem Jahr 1992 nicht mehr. Allerdings bleibt auch zu sagen, wird das Marktvolumen weiterhin durch die Angebotsseite begrenzt, denn die Versorgungslage mit Material bleibt noch weiter angespannt. Wir erwarten daher nicht, dass sich dies kurzfristig auflöst. Die Unternehmen, gerade auch in der Zulieferindustrie und im Mittelstand, stehen daher unter großem Druck. (0:27)
9. Welche Auswirkungen hat der Halbleiter-Mangel für Ihre Industrie?
Die weltweite Halbleiterknappheit macht uns nach wie vor zu schaffen und sie wird auch wahrscheinlich das ganze Jahr 2022 noch begleiten. Elektroautos brauchen im Übrigen mehr Halbleiter als Verbrenner-Autos. Der Bedarf wird also ansteigen. Wenn wir Weltmarktführer der Zukunft sein wollen in Deutschland, dann brauchen wir jetzt den Aufbau von Halbleiterfabriken, mindestens um den Eigenbedarf zu decken. In Deutschland und Europa muss hierfür eine schnelle Umsetzung gefunden werden. Die Europäische Union überlegt dort gerade die Rahmenbedingungen zu ändern. Ich finde das richtig, und was mir dabei wichtig ist: Der Appell für mehr Unabhängigkeit ist nicht als ein Votum gegen die Globalisierung zu verstehen. Im Gegenteil. Ich glaube, die globale Zusammenarbeit muss gestärkt werden. Am Ende profitieren wir alle davon. Ich bin daher ein Fan der Globalisierung und von den verteilten Rollen auf den Produktions- und Absatzmärkten. Angesichts der aktuellen Engpässe zeigt sich aber auch, dass wir grundsätzlich die Sicherstellung der Bedarfe besser absichern müssen, zum Beispiel durch Handelsabkommen, durch Energie-Partnerschaften und anderes. (0:58)
10. Was erwarten Sie angesichts der Herausforderungen, die Sie gerade geschildert haben, vom Jahr 2022?
Für das Jahr 2022 erwarten wir für den Pkw-Weltmarkt mit plus 4 Prozent ein ähnliches Wachstum wie im Jahr 2021. Und damit würde im Jahr 2022 der Höchststand des Pkw-Weltmarktes aus dem Jahr 2017 allerdings immer noch um knapp 14 Prozent unterschritten. Die Märkte in den Vereinigten Staaten und China dürften um etwa 2 Prozent zulegen. Europa ist allerdings aktuell noch deutlich von dem Vorkrisenniveau vor Corona und dürfte, unter anderem bedingt durch Nachholeffekte, um etwa 5 Prozent zulegen. Aber wie gesagt, insgesamt erfüllt es noch nicht unsere Erwartungen. Viele Zahlen, das heißt zusammengefasst, es geht aufwärts. Aber nach wie vor sind wir noch nicht auf Vorkrisenniveau. (0:42)
Abmoderation:
VDA-Präsidentin Hildegard Müller im Exklusiv-Interview. Der Verband der Automobilindustrie hat heute die Jahresbilanz 2021 vorgestellt. Für den deutschen Markt erwartet der VDA 2022 eine Steigerung des Fahrzeugabsatzes um 7 Prozent auf 2,8 Millionen Neuwagen. Damit bleibt der Pkw-Inlandsmarkt deutlich unter den rund 3,5 Millionen Neuzulassungen vor der Pandemie.
Pressekontakt:
Ansprechpartner:
VDA, Dr. Lutz Meyer, 030 897842121
VDA, Simon Schütz, 030 897842 120
all4radio, Laura Kühner, 0711 3277759 0
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