Polnisches Institut Düsseldorf
Warum blicken Polen auf den Ersten Weltkrieg anders als Westeuropäer? Warum wurde das Ende des Großen Krieges am 11.11.1918 zum jährlich gefeierten polnischen Unabhängigkeitstag?
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Düsseldorf (ots)
Polen ist tief in der Geschichte verwurzelt. Dank seiner Geschichte wird man verstehen, warum mehr als eine Million offen aufgenommene ukrainische Einwanderer in Polen leben und arbeiten, und auf dem Gipfeltreffen der Europäischen Union bemüht sich Polen erfolgreich um einen Plan für umfassende wirtschaftliche Unterstützung für Belarus.
In seinem berühmten Buch "The Sleepwalkers" ("Die Schlafwandler") untersucht der britische Professor Christopher Clark die Ursache des Ersten Weltkriegs und diagnostiziert, dass es sich dabei eher um eine Tragödie als um ein Verbrechen handelte. Der Erste Weltkrieg wurde von diesen "Schlafwandlern" ausgelöst, die sich des Ausmaßes der Katastrophe nicht bewusst waren, zu deren Tätern sie geworden waren. Als Katastrophe entpuppte sich nicht nur die Hekatombe der Opfer und das Ausmaß der Zerstörung, sondern vor allem der Zusammenbruch der europäischen politischen Ordnung, die von vielen bis heute als "das schöne 19. Jahrhundert" bewundert wird. Vor sechs Jahren, zum hundertsten Jahrestag jenes Krieges, wurde Clarks Buch zu einer "politischen Bibel" von Politikern und Intellektuellen, die, während sie mit Anerkennung spöttelten, ihre Thesen auf zahllosen Konferenzen diskutierten und immer mit der gleichen Warnung vor einer Wiederholung des "verrückten" Präzedenzfalls endeten. Betrachtet man die westeuropäische Perspektive von "la belle époque", die durch diesen Krieg brutal unterbrochen wurde, kann man sagen, dass diese Art der Erzählung, die Clark Europa diktiert hat, nicht nur logisch ist, sondern auch den Wert von moralischem Edelsinn hat. Allerdings muss der Pole in dieser Erzählung von dem radikalen Unterschied in der Erfahrung des 20. Jahrhunderts überrascht werden, der für Mittel- und Osteuropa charakteristisch ist. Ein Unterschied, der für den heutigen Franzosen, Italiener oder sogar Deutschen wahrscheinlich schwer zu erkennen, geschweige denn zu akzeptieren ist.
Wie unterschiedlich klingen die Echos des Großen Krieges?
Eine der berühmtesten Passagen aus der polnischen Literatur, die seit der Schulzeit in der Erinnerung aller Polen haften geblieben ist, ist ein Gebet aus der "Pilger-Litanei" des größten polnischen Dichters Adam Mickiewicz: "Um den allumfassenden Krieg für die Freiheit der Völker! Wir bitten Dich, Herr". Dieser Passus wird als prophetische Ankündigung des Kriegsausbruchs behandelt, der den Polen nach mehr als einem Jahrhundert der Besatzung endlich Freiheit und die Möglichkeit, im eigenen Land zu leben, bringen wird. In dieser polnischen Erzählung ist das Jahr 1914 weder ein "Verbrechen" noch eine "Tragödie", sondern im Gegenteil ein historischer Vorbote der vier Jahre später wiedergewonnenen Freiheit, als das unerwartete Ergebnis dieses Krieges der Sturz dreier Besatzungskaiser war: des deutschen, des russischen und des österreichischen Besatzungskaisers.
Es war ein Schlüsselmoment für das polnische Verständnis der Welt und der eigenen Weltstellung. Der Kriegssieg Englands und Frankreichs ermöglichte es den Polen, ihre Freiheit wiederzuerlangen, und so waren es diese beiden Mächte, die als "befreundet" und "verbündet" in den Code des polnischen politischen Selbstbewusstseins eingeschrieben wurden, der von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Aber das ist nicht genug. Dieser Sieg war, wie jedes Kind in Polen weiß, nur möglich dank der Tatsache, dass die Amerikaner zum ersten Mal in der Geschichte Europa betraten. Wenn sie bald darauf, angewidert von der Qualität der europäischen Politik, Europa verließen, musste die Tragödie sich wiederholen. Der Zweite Weltkrieg wurde zum offensichtlichsten Beweis dafür. Und so wurde diese Überzeugung von der fast "magischen" Kraft der amerikanischen Präsenz in Europa auch in der politischen DNA kodiert und prägte fortan die Identität der Polen.
Ein spezifischer "Transfer" der Europäischen Union in den Osten Europas baute die politische Mission des heutigen polnischen Staates auf.
Dies ist vor allem ein Echo der Träume von politischer Integration, die (wie sich im Laufe der Zeit herausgestellt hat) nicht mehr in besonderer Weise im Mittel-Osteuropa etabliert werden kann, sondern nur im Rahmen eines großen Integrationsprojekts für ganz Europa in diesen Raum gelangen kann. Man muss dies wissen, um die Begeisterung der Polen für ihren eigenen Beitritt zur Europäischen Union im 21. Jahrhundert, aber auch für deren mögliche Erweiterung um die Ukraine, Weißrussland, Moldawien oder Georgien zu verstehen. Ein spezifischer "Transfer" der Union nach Osten hat die politische Mission des heutigen polnischen Staates aufgebaut, und ohne das Bewusstsein dieser Tatsache ist es unmöglich, die polnische Politik des letzten Vierteljahrhunderts zu verstehen.
Ein fernes Echo dieser Zeit ist leider auch eine starke Erinnerung in Polen an die Tatsache, dass zu der Zeit, als 1920 alle polnischen Pläne und damit sogar die Existenz des polnischen Staates selbst bedroht waren, die "verbündeten" und "befreundeten" europäischen Mächte, und insbesondere England unter Lloyd George stellte sich paradoxerweise auf die Seite der Bolschewiki und zwang die polnische Regierung auf der Konferenz von Spa, die Hälfte des Staatsgebiets an Sowjetrussland abzutreten, d.h. alles, was die russischen Zaren im 18. Jahrhundert an sich gerissen haben.
Dieses subkutane Misstrauen gegenüber den europäischen "Freunden", das sich im September 1939 verstärkte und tatsächlich bis heute anhält, ist in Polen nie wieder ausgeräumt worden. Das wiederkehrende Echo dieser Ereignisse ruft jedoch auch eine besondere polnische Sensibilität gegenüber Ungerechtigkeit und der Ablehnung von Ukrainern und Weißrussen durch Europa hervor, den einzigen Nationen, die sich vor einem Jahrhundert gemeinsam mit Polen militärisch gegen die sowjetische Gefahr stellten. Wer verstehen will, warum heute mehr als eine Million offen aufgenommene ukrainische Einwanderer in Polen leben und arbeiten, muss sich dessen bewusst sein, und auf dem Gipfel der Europäischen Union ist es der polnische Premierminister, der sich erfolgreich um einen Plan umfassender wirtschaftlicher Unterstützung für Belarus bemüht, um voranzukommen, wenn es seinen Bürgern gelingt, die dort bisher herrschende Tyrannei zu beseitigen.
In seinem berühmten Buch bewies Professor Clark, dass das Echo jenes Großen Krieges in der zeitgenössischen Politik deutlich zu hören ist. Das ist wahr. Nur dass die polnischen Echos etwas anders klingen als die des bedeutenden britischen Historikers.
Beitrag von Jan Rokita, Philosoph, ehemaliger polnischer Bürgerrechtler, ehem. Abgeordneter und ehem. Vorsitzender des Parlamentarierklubs der Bürgerplatform (Platforma Obywatelska)
Der Text erscheint zeitgleich in dem polnischen monatlichen Meinungsmagazin "Wszystko Co najwazniejsze" (Alles, was wichtig ist) im Rahmen des mit dem Institut des Nationalen Gedenkens durchgeführten Projekts.
Übersetzung aus dem Polnischen: Andrzej Kolinski, Polnisches Institut Düsseldorf
Pressekontakt:
Andrzej Kolinski
PR, Polnisches Institut Düsseldorf
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