Zehnkampf-Olympiasieger Willi Holdorf: "Tokio 1964 war wie eine Reise zum Mond"
Frankfurt am Main (ots)
Der "König der Athleten" über das "Abenteuer Tokio", über die Ost-West-Ausscheidung vor den Olympischen Spielen 1964 und das Verhältnis mit den damaligen DDR-Athleten, warum er bereits mit 24 Jahren seine Karriere beendete und über die Chancen der deutschen Zehnkämpfer in Rio 2016.
Vor 50 Jahren, am 20. Oktober 1964, führt der Zehnkämpfer Willi Holdorf bei den Olympischen Spielen in Tokio in einem der bekanntesten Zweikämpfe der Sportgeschichte: Im abschließenden 1500-Meter-Lauf darf er maximal 18 Sekunden auf Rein Aun aus der Sowjetunion verlieren. Anschließend gehen die Bilder des entkräfteten Goldmedaillengewinners um die Welt. Das Mitglied der "Hall of Fame des deutschen Sports" im Sporthilfe-Interview.
Heutzutage wissen die Athleten sofort, wie viele Punkte sie gemacht haben, wie der Abstand zu den Mitstreitern ist. Wie war das 1964? War Ihnen bewusst, dass Sie maximal 18 Sekunden auf den Zweitplatzierten verlieren durften?
Ja, mein Trainer hatte das draußen ausgerechnet und mir das dann gesagt. Das Spannende war ja, dass ich in jenem Jahr nur eine schlechte 1500-Meter-Leistung hatte und der Este Aun eine um 30 Sekunden bessere Zeit. Ich wusste aber, dass ich schneller laufen kann, als ich das bisher getan hatte.
Auf den letzten Metern wurde Ihnen schwarz vor Augen. Sie waren nur zwölf Sekunden langsamer, blieben 14 Sekunden unter der eigenen Bestzeit. Wussten Sie schon im Ziel, dass es zu Gold gereicht hat?
Nein, im Ziel nicht. Aber wie ich da so auf der Aschenbahn lag, da habe ich meinen Trainer gesehen, und der lachte. Da dachte ich: Na, wenn der lacht, da wirst du nicht verloren haben.
Eine enorme Willensleistung.
Es ist bei Olympischen Spielen natürlich einfach, sich mal zusammenzureißen. Ich bin unbelastet in den Wettkampf gegangen. Zwar wusste ich, dass ich eine Medaille gewinnen kann, aber großer Favorit war ein Chinese, der in den USA studierte, der war eigentlich übermächtig. Im Grunde genommen war ich froh, dass ich teilgenommen habe. Dass ich gewinnen kann, merkte ich nach dem ersten Tag, als ich in Führung lag. Dann wird es eben ein bisschen spannend. Aber wenn ich an die Athleten heute denke, oder an Jürgen Hingsen: Der wusste 1984 in Los Angeles, wenn er jetzt den Diskus weit wirft, dann muss er niemals mehr arbeiten. Das ist schon eine riesige Belastung. Wir sind dagegen viel unbelasteter rangegangen.
Was ist Ihnen von den beiden Wettkampftagen damals noch prägend in Erinnerung? Beim Stabhochsprung standen Sie schon mit dem Rücken zur Wand.
Ja, da habe ich die vorletzte Höhe erst im dritten Versuch geschafft. Wenn ich da nicht drüber gekommen wäre, würden wir heute nicht miteinander sprechen. Aber es ist ja nochmal gut gegangen.
Vor Tokio mussten Sie durch die Ost-West-Ausscheidung, es gab ja noch die gemeinsame Olympiamannschaft.
Das war eigentlich mein schönster Wettkampf - und eine größere Belastung als die Olympischen Spiele. In Jena hat sich damals entschieden: Kommst du mit nach Tokio oder nicht? Wenn du der mit Abstand Beste warst, aber holst dir eine Zerrung, dann bleibst du zu Hause. Ich erinnere mich noch an den Hürdenlauf, da waren vier Hürdenbahnen aufgestellt, und ich hatte eine Außenbahn. Da habe ich gesagt, ich laufe nicht. Ich wollte wie die anderen eine Hürde neben mir haben, denn dann kann keiner sagen, ich hätte das Bein an der Hürde vorbeigezogen. Ich hatte Angst, ein internationaler Schiedsrichter könnte nachher so urteilen. Schlussendlich haben sie dann links und rechts neben den vier Bahnen weitere Hürden aufgestellt. Man hatte eben Schiss.
Wie war das Verhältnis zu den Ost-Sportlern damals - freundschaftlich, tauschte man sich aus, oder herrschte Schweigen und Konkurrenzkampf?
Unser Verhältnis war freundschaftlich. Was überraschend war: Die Zuschauer in Jena haben uns mehr angefeuert als ihre eigenen Leute. Wir Westdeutschen waren damals überlegen, es war klar, dass drei von uns die Qualifikation schaffen würden.
Und dann ging es nach Tokio. Ein Abenteuer?
Das war für uns so eine weite Reise, wie wenn man mir heute sagen würde, ich müsste zum Mond fliegen. Unendlich weit weg. Ich bin in der Nähe von Hamburg groß geworden, in Glückstadt an der Elbe. Ich musste 19 Jahre alt werden, um mal über Hamburg hinaus zu kommen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Es ging über Kopenhagen über den Nordpol nach Anchorage, Alaska. Da hatten wir ein paar Stunden Aufenthalt. Damals durften wir ja nicht über die Sowjetunion fliegen.
Sie haben direkt nach Ihrem Olympiasieg aufgehört, mit 24 Jahren. Warum so früh?
Die Konkurrenz in Deutschland war sehr groß, wenn man mithalten wollte, musste man hart trainieren. Ich war schon verheiratet, musste eine Familie ernähren und mich um mein Studium kümmern. 1968 habe ich es bereut. Damals war ich als Trainer des Stabhochspringers Claus Schiprowski bei Olympia dabei. Die schöne Kunststoffbahn in Mexiko-Stadt wäre mir als relativ schwerer Athlet entgegengekommen.
Der Zehnkampf war in den 1960er-Jahren sehr populär, es gab viele deutsche Erfolge. Verfolgen Sie die Szene und heutigen Wettkämpfe noch?
Ja, ganz intensiv. Wir treffen uns auch mit den Athleten aus meiner Zeit alle zwei Jahre, da sind die ehemaligen DDR-Athleten mit dabei. Schön, dass man jetzt intensiv miteinander sprechen kann. Damals im Olympischen Dorf haben wir ja nicht mal im gleichen Haus gewohnt.
Heute ist manchmal die Rede davon, die junge Generation könne nicht mehr so "beißen". Wie sehen Sie das?
Ich glaube es gibt auch heute noch Typen, die sich über das Maß hinaus anstrengen können. Wenn man fünfmal Deutscher Meister geworden ist, dann ist es beim sechsten Mal natürlich schwieriger, sich zu verausgaben als bei Olympischen Spielen, wo sie wissen, es geht um alles.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass die deutschen Mehrkämpfer 2016 in Rio ein gutes Bild abgeben werden?
Sehr zuversichtlich. Europameister Pascal Behrenbruch hatte sich ja für die EM im August in Zürich gar nicht qualifiziert, Michael Schrader, der als WM-Zweiter zuletzt der Beste war, hatte sich verletzt. Wenn der wieder fit ist und die drei, die in Zürich gute Leistungen gebracht haben, ihren Stabhochsprung noch verbessern, dann mischen wir in der Weltspitze mit.
Was hat der Sport Ihnen gegeben?
Manchmal hat man es leichter, wenn man Olympiasieger ist, manchmal auch schwerer. Wenn man eine Meinung äußert, wird die immer auf die Goldwaage gelegt. Man muss sich überlegen, ein Urteil über etwas abzugeben. Das kann schnell nach hinten losgehen. Der Uwe Seeler hat jahrelang nichts Schlechtes über den HSV gesagt - zurzeit bleibt ihm nichts anderes übrig -, aber er hat sich immer zurückgehalten.
Sie sind vorsichtiger geworden durch den Erfolg.
Ja, würde ich sagen.
Aber der Sport hat Sie geprägt?
Sehr. Ich glaube, man wird psychisch stärker für das ganze Leben. Sie dürfen nicht vergessen: Wenn einer tagtäglich freiwillig trainiert hat, wenn er das ein bisschen in den Berufsalltag mit reinbringt, nur einige Prozente davon, dann kommt er auch beruflich relativ weit, allein durch Fleiß. Wenn er nicht ganz dusselig ist.
Zur Person:
Willi Holdorf (*17. Februar 1940 in Blomesche Wildnis)
1964 in Tokio gelang Willi Holdorf im Zehnkampf der große Coup: In einem mitreißenden Finale gegen Rein Aun aus der Sowjetunion holte er als erster Deutscher den Olympiasieg in der "Königsdisziplin" der Leichtathletik. Nach dem abschließenden 1500-Meter-Lauf brach er entkräftet zusammen. Vor seiner Karriere in der Leichtathletik war der "Sportler des Jahres 1964" als Fuß- und Handballer aktiv gewesen. Vielseitigkeit bewies der Diplom-Sportlehrer auch später: Holdorf führte Stabhochspringer Claus Schiprowski 1968 als Trainer zu Olympia-Silber, kümmerte sich um die Kondition des deutschen Davis-Cup-Teams, machte den Fußballlehrer-Schein und arbeitete 1974 kurzzeitig als Trainer des Bundesligisten Fortuna Köln. Zwischendurch setzte er sich als Anschieber in den Zweier-Bob von Horst Floth und wurde EM-Zweiter. Später war Holdorf Repräsentant eines großen Sportartikelherstellers und schrieb als Gesellschafter an der Erfolgsgeschichte des Handball-Klubs THW Kiel mit. Seit 2011 ist er Mitglied in der "Hall of Fame des deutschen Sports".
Die Fragen stellte Oliver Kauer-Berk.
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