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WAZ: Wahlen in der Türkei: Eine neue Klasse will nach oben - Leitartikel von Gerd Höhler
Essen (ots)
Tayyip Erdogan bleibt türkischer Ministerpräsident. Das wird auch manche freuen, die ihn am Sonntag nicht gewählt haben. Türkische Wirtschaftsführer zum Beispiel, die Erdogan wegen seiner Vergangenheit als Islamist immer noch misstrauen, andererseits aber jetzt auf eine Fortsetzung der marktwirtschaftlichen Reformen hoffen dürfen. Erdogan hat im neuen Parlament eine bequeme absolute Mehrheit. Zugleich verfehlte seine AK-Partei aber eine Zweidrittelmehrheit. Die Gefahr islamistischer Experimente scheint damit zunächst gebannt. Das dürfte Opposition und Militärs, die dem gewendeten Fundamentalisten nicht über den Weg trauen, beruhigen.
Die Kraftprobe dieser Parlamentswahl ist mit dem Votum aber keineswegs entschieden. Es geht dabei um mehr als den Machtkampf zwischen religiös und säkular geprägten Kräften. In dem unerwartet klaren Wahlerfolg der Erdogan-Partei, wie auch in der Wahl der Kurdenpolitiker, manifestiert sich ein sozialer Wandel, der die politische Landschaft der Türkei grundlegend zu verändern beginnt. Seit Gründung der Republik vor 84 Jahren dominierten das Militär und die westlich geprägte Istanbuler Elite das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben der Türkei. Aber Macht und die Privilegien dieser Elite sind in Gefahr. Eine neue Klasse beginnt sich in der Türkei zu etablieren.
Sie kommt aus dem bäuerlichen, religiös-konservativen Milieu Anatoliens. Aus den ehemals mittellosen, ungebildeten Landflüchtlingen wächst eine neue Mittelschicht heran, deren Selbstbewusstsein nicht zuletzt auf wachsendem Wohlstand gründet. Von einst verschlafenen Orten wie Gaziantep, Adana, Konya oder Kayseri spricht man inzwischen als den "Tigerstädten" Anatoliens. Erdogan selbst, der sich aus einfachsten Verhältnissen hocharbeitete, ist eine Symbolfigur dieser neuen Türkei.
Viel wird nun davon abhängen, wie Erdogan mit diesem Sieg umgeht. Im Wahlkampf präsentierte er seine AKP als Partei der Mitte. Die Frage ist, ob sich dieser Kurs im neuen Kabinett bestätigt und ob Erdogan, wie bisher, der Versuchung widersteht, die Türkei mit einer Militärintervention im Nordirak in ein Himmelfahrtskommando zu stürzen? Der Druck der Generäle und der Ultra-Rechten, die nun mit 70 Abgeordneten im Parlament sitzen, wird jedenfalls nicht geringer. Auf ihr Erstarken gibt es nur eine wirksame Antwort: die europäische Integration der Türkei. Erdogan weiß das. Noch in der Wahlnacht versicherte er deshalb, entschlossen an der Verwirklichung des EU-Zieles weiterarbeiten zu wollen.
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