Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Der Trend zu Bürgerinitiativen - Politisch und doch parteifern - Leitartikel von Tobias Blasius
Essen (ots)
Politikverdrossenheit lautet der Sammelbegriff, der von niedriger Wahlbeteiligung bis zum Mitgliederschwund der Volksparteien alles zu erklären scheint. Wer jedoch die zahlreichen lokalen Bündnisse und Initiativen sieht, die als bunte außerparlamentarische Opposition aus Bürgern aller Milieus für oder gegen ganz konkrete Projekte vor der eigenen Haustür mobil machen, ahnt: Politikverdrossenheit ist keine politische Teilnahmslosigkeit, sondern allenfalls ein Überdruss an Parteipolitik.
Im punktuellen Engagement vieler Menschen finden die Individualisierung des Lebens und die Zersplitterung der Interessen ihren Ausdruck. Kaum jemand bucht mehr ohne Not das parteipolitische All-inclusive-Paket aus Papierkrieg, Protokollwesen und Pöstchengeschacher. Die Bereitschaft, sich für Belange in seinem Sprengel einzusetzen, folgt keiner Ideologie, keiner Sehnsucht nach Gesinnungsbruderschaft, sondern purem Pragmatismus. Droht dem Kleinod im Viertel der Abrissbagger, haken sich Rechtsanwalt und Rentner ebenso schnell unter wie Handwerker und Hausfrau.
Die zumeist überalterten und personell ausgezehrten Parteien müssen auf kommunaler Ebene erkennen, dass sie nicht länger einziger Anker für die Organisationsfähigkeit von Nachbarschaften und Interessengruppen sind. Die Kommunikationswege des Internets und das große Reservoir an engagierten, artikulationsfähigen und doch parteipolitisch ungebundenen Bürgern erhöhen die thematische Umschlagsgeschwindigkeit: So schnell, wie sich hie und da Bündnisse gegen Verwaltungspläne bilden und auflösen, kann keine Partei reagieren.
CDU und SPD werden ihren Volkspartei-Charakter nur wahren können, wenn sie sich stärker den lokalen Graswurzelbewegungen öffnen, ohne sich in Einzelinteressen zu verlieren. Wer gleich mit dem Gesinnungsverdikt "Lebenslänglich" droht oder dem Schriftführer, wirkt auf Quereinsteiger mit ihrem Engagement auf Zeit wenig attraktiv. Volksparteien wie CDU und SPD könnten die Dynamik der direkten Demokratie und ihrer Köpfe furchtloser annehmen. Wenn es ums Gestalten und Gemeinwesen geht, nicht bloß ums Verhindern missliebiger Projekte, bleiben sie als Großorganisationen unverzichtbar. Nur sie können Entscheidungen möglichst breit legitimieren und durch die unverzichtbaren Strukturen der repräsentativen Demokratie navigieren. Nur sie sind der Garant eines gesellschaftlichen Ausgleichs. Der politische Diskurs vor Ort darf nicht allein von der eher zufälligen Durchsetzungskraft einzelner Initiativen abhängen.
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