Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Die Kulturhauptstadt ist gefährdet - Man müsste nur wollen. Leitartikel von Gudrun Norbisrath
Essen (ots)
Welch eine Nachricht. Außerhalb des Ruhrgebiets beginnt man zu begreifen, dass hier keine Briketts durch die Luft fliegen, dass Kultur und Wissenschaft ungewöhnlich stark sind und ein auffällig unauffälliger Luxus etwas zu tun hat mit Zurückhaltung, die aus Bodenständigkeit erwächst.
Der Blick von außen ändert sich allmählich, und das ist eine Folge der Kulturhauptstadt. Der Wandel des Ruhrgebiets kann auf Jahrzehnte zurückblicken, Kohle und Stahl sind seit langem nicht mehr Motor der Region; all das aber hat das Image in der Öffentlichkeit kaum verbessert. Der Perspektivwechsel kam erst mit dem Titel Kulturhauptstadt, von dem mancher nicht glauben mochte, dass er hierher gehört. Dem Kopfschütteln folgte Neugier, und was sie entdeckte, überraschte. Statt Bildern von röhrenden Hirschen an Wohnzimmerwänden fand man ein Festival mit der Weltelite der Pianisten - zum Beispiel.
Genau das war das Ziel, für das sich im Ruhrgebiet alle Kräfte in nie gekannter Einigkeit verbunden und um den Titel Kulturhauptstadt beworben haben: der Region Glanz und wirtschaftlichen Aufschwung zu geben. Es war großartig, und es ist großartig: Der Titel beginnt zu wirken, jetzt schon.
Und in diesem Augenblick trifft die Stadt Essen eine Entscheidung, die Zweifel weckt, ob sie reif ist für 2010. Entlässt einen renommierten Intendanten trotz bundesweiter Proteste. Stellt sich kleinkariert tot, weigert sich, ihren Entschluss zu überdenken und beweist soviel Sinn für Kultur wie, eben, der röhrende Hirsch.
Dabei wäre ein Rückzug ohne Gesichtsverlust möglich. Man könnte die Philharmonie aus der Theater- und Philharmonie GmbH herauslösen. Das wäre ohnehin zu erwägen, wenn Essens Oper und Schauspiel Staatstheater werden, wie eine Expertengruppe gefordert hat. Man könnte die Industriellen im Kuratorium anfragen, ob sie der verschuldeten Stadt mit der Übernahme des Philharmonie-Defizits aus der Klemme helfen. Man könnte Oliver Scheytt, den starken Macher der Kulturhauptstadt, aus seiner zusätzlichen Verantwortung als Kulturdezernent entlassen; was Anfang 2009 ohnehin der Fall sein wird. Und man könnte Michael Kaufmann höflich bitten, trotz allem für das Ruhrgebiet noch ein Weilchen tolle Programme zu entwickeln.
All das könnte man tun - für die Kulturhauptstadt. Man müsste nur wollen. Es wäre auch ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Region, für die Essen stellvertretend den Titel tragen soll.
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