Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Grass und die deutsche Einheit - Auch Dichter können irren - Leitartikel von Wolfgang Platzeck
Essen (ots)
Mit der Distanz von fast zwei Jahrzehnten, die zwischen der Niederschrift und der Veröffentlichung vergangen sind, könnte man Günter Grass' Tagebuchaufzeichnungen des Vereinigungsjahres 1990 mit einer Mischung aus Interesse, Nachdenklichkeit, Nostalgie und etwas Amüsiertheit zu Kenntnis nehmen - und das Buch dann ins Regal stellen. Abteilung Sachbuch/Zeitgeschichte. Denn erwähnenswerte literarische Qualitäten hat das neue Werk des Literatur-Nobelpreisträgers nicht.
Was hat Grass 1989/1990 nicht alles prognostiziert. Er - nicht nur er, aber kaum sonst einer ähnlich verbissen - hat als Folge der Vereinigung die Wiedergeburt eines zentralistischen, für Nachbarländer gefährlichen Groß-Deutschland beschworen. Er hat für das Zusammenbrechen der DDR-Wirtschaft die vorschnelle Währungsunion verantwortlich gemacht (was konnte im Pleitestaat DDR eigentlich noch kollabieren?).
Grass hat statt den von Helmut Kohl ziemlich voreilig versprochenen blühenden Landschaften in den Neuen Ländern eine durch die Treuhand mutwillig herbeigeführte Totalversteppung vorausgesagt. Er hat die Einführung des Euro verteufelt (der unbestreitbar ein Stützpfeiler des Europäischen Hauses ist). Er hat sogar ein Ost-Land wie Polen, das nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems die neue Freiheit auskosten wollte, davor gewarnt, sich der "landzerstörenden Kraft" der EU und ihrer Brüsseler Zentrale auszuliefern.
Grass, der sich als Dichter stets im Wettlauf mit den Utopien von gestern und morgen sah und der vor politischen Stellung- bzw. Parteinahmen nie zurückschreckte, hat all das 1989/1990 tatsächlich befürchtet. An der Aufrichtigkeit seiner Mahnungen besteht kein Zweifel, auch wenn manch verbale Entgleisung heute stört. Unter dem Strich aber muss man sagen: Das alles ist Geschichte, die vielen jungen Leuten heute sogar, leider, gar nicht mehr bekannt ist. Vieles ist von der Entwicklung überholt, widerlegt worden. Haben wir je in einem besseren Europa gelebt?
Man könnte also das Buch getrost nach der Lektüre zur Seite stellen. Grass hat sich geirrt. Irren ist menschlich. Doch Günter Grass, der sich immer mehr die Attitüde des Nationaldichters gibt, reklamiert für sich Unfehlbarkeit. Schon vor zwei Wochen, als noch niemand das Buch hatte lesen können, beharrte er medienwirksam auf seiner alten Kritik an der Vereinigung und ihren Folgen. Er wolle, meinte er, "einigen Sonntagsrednern in die Suppe spucken". Nein, diese Suppe ess' ich nicht!
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