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WAZ: Tarifabschluss in der Stahlindustrie: Streit statt Streik - Leitartikel von Ulf Meinke

Essen (ots)

Einen Streik hat die Tarifeinigung in der
Stahlindustrie verhindert – und zugleich einen heftigen Streit
ausgelöst. Von sozialem Frieden ist nicht viel zu spüren am Tag nach
der nächtlichen Einigung auf 3,5 Prozent mehr Einkommen für die
Beschäftigten einer deutschen Boom-Branche. Üblicherweise verstummt
mit einem Tarifabschluss auch die Klassenkampf-Rhetorik. Nicht so in
der Stahlindustrie: Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt warf der IG
Metall Erpressung vor. Die wiederum feiert einen Sieg über den
„Shareholder-Value- Kapitalismus” – also ein Wirtschaften, das allein
an den Interessen der Aktionäre ausgerichtet ist. Nicht nur diese
Reaktionen belegen: Die deutsche Stahlindustrie ist derzeit in
vielerlei Hinsicht einzigartig. Die Konzerne präsentieren Bilanzen
mit Goldrand, und die Auftragsbücher sind angesichts der enormen
Rohstoffnachfrage aus China prall gefüllt. Was gut ist für die
Unternehmen, ist auch gut für die Gewerkschaften. Die
Branchenkonjunktur beschert auch der IG Metall einen Erfolg in
schwierigen Zeiten. Vertauschte Rollen: Plötzlich spricht ein
Arbeitgebervertreter von Erpressung, nicht etwa ein Gewerkschafter.
Ist nun wirklich die Zeit des Verzichts vorbei? Hat der Abschluss der
Stahlindustrie tatsächlich Signalwirkung für andere Branchen? Selbst
die IG Metall spricht von „stahltypischen Verträgen”. So singulär die
Situation der Stahlkocher ist, so wenig lässt sich die Höhe der
Einkommenssteigerung auf stagnierende Branchen übertragen. Eine
politische Botschaft der Gewerkschaft geht allerdings schon vom
Stahlabschluss aus: Dort, wo Unternehmen Gewinne machen, sollen auch
die Beschäftigten profitieren – über einen Ausgleich für die
Inflation hinaus. Insofern ist das Tarifergebnis der Stahlindustrie
hochpolitisch. Es wird die Debatte über den gerechten Lohn in Zeiten
der Globalisierung anfeuern. Auch deshalb war ein abgewendeter Streik
der Auftakt für einen tosenden Streit.

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