Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Die Buchmesse soll Lust auf Lesen machen: Die Welt mit anderen Augen sehen - Leitartikel von Wolfgang Platzeck
Essen (ots)
Schöner, unmissverständlicher kann man es nicht ausdrücken als der Programmchef eines deutschen Literaturverlages, der auf der Buchmesse in Frankfurt lakonisch meinte: Vielen Büchern mangele es an Schreibnotwendigkeit. Kein Einspruch!
Wenn aber schon die Schreibnotwendigkeit oft fehlt, wie steht es dann um die Lesenotwendigkeit? Muss der Mensch lesen, und warum? Die Frage führt geradewegs zum komplexen Thema Lesekultur und wird neuerdings gern mit der Gegenfrage gekontert: Surfst du schon oder liest du noch? Das klingt nach Kalauer und ist doch nicht ohne ernsten Hintergrund. Gern berufen wir uns auf die Kulturtechnik Lesen. In der Tat waren Lesen und Schreiben von Anbeginn eine die Mängel der oralen Kommunikation beseitigende Technik, um das Erlangen, Verstehen, Verwalten und Weitergeben von Informationen zu erleichtern. Das Internet ist da nur die logische Weiterentwicklung.
Dass auch der Surfer liest, wird bei der Frage nach der Lesekultur gern übersehen. Auch, dass es mehr als nur eine Lesekultur gibt. Welten trennen denjenigen, der sich aus Überzeugung oder unter Zeitdruck nur so genannte Gebrauchstexte vornimmt, von dem, der sich in der internationalen Literatur heimisch fühlt. Aber schon die Tatsache, dass Experten bei Letzterem anerkennend ein elaboriertes Leseverhalten konstatieren, zeigt: Nur das Lesen anspruchsvoller Texte gilt als wahres Lesen.
Wer aber gibt den Anspruch vor? Objektive Kriterien gibt es nicht. Die Erstellung von Literaturkanons ist da so wenig hilfreich wie ein Argumente-Katalog für das Lesen. Vielleicht sollte man Anspruch durch Ansprache ersetzen. Ich lese, was mich anspricht. Was mich interessiert. Weil ich etwas in Erfahrung bringen muss oder will. Und wenn ich merke, dass mich eine Lektüre nicht anspricht, höre ich eben auf. Auch das kann ich noch unter Erfahrung, unter Information verbuchen.
Denn letztlich geht es beim Lesen immer um Information. Wie notwendig die ist, kann nur jeder für sich entscheiden. Wobei es nicht nur um harte Fakten geht. Der Schöngeist mit Proust, die Industriellen-Gattin mit Thomas Mann oder der Kfz-Mechaniker-Azubi mit Jerry Cotton jeder lernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen und sich in dieser, in seiner Welt anders, hoffentlich besser zu bewegen als vorher.
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