Aachener Nachrichten: In der Verantwortung - Die SPD vor ihrem wegweisenden Parteitag; ein Kommentar von Joachim Zinsen
Aachen (ots)
Staatspolitische Verantwortung: Häufig war davon in den vergangenen Wochen die Rede. Oft hieß es, die SPD übernehme sie nur dann, wenn die Partei erneut in eine große Koalition eintritt. Aber stimmt das? Nein, es zeugt von größerer staatspolitischer Verantwortung, wenn die SPD alles dafür tut, endlich wieder als kraftvoller Gegenspieler der Union die brüchige deutsche Parteienlandschaft zu stabilisieren. Sie beweist staatspolitische Verantwortung, wenn ihre Spitzenleute nicht länger wie Getriebene wirken, sondern als selbstbewusste und prinzipienfeste Vertreter einer linksliberalen Volkspartei auftreten. Die Sozialdemokratie kommt dann ihrer staatspolitischen Verantwortung nach, wenn es ihr gelingt, attraktive politische Alternativen für eine reiche Gesellschaft zu formulieren, in der inzwischen ganze Bevölkerungsschichten vom wachsenden Wohlstand ausgeschlossen sind. Für eine Gesellschaft, in der sich immer mehr Menschen gehetzt fühlen und am Rande des Burn-out wandeln. Für eine Gesellschaft, in der grassierende Abstiegsängste längst zum Nährboden für rechtsnationalistische Verführer geworden sind. Deshalb muss die SPD sich deutlich von der Politik der Union abgrenzen und mit den Resten neoliberalen Agenda-Denkens in den eigenen Reihen brechen. Oder wollen die Sozialdemokraten zulassen, dass etwas weiter zusammenwächst, was nicht zusammengehört? Spatz oder Taube? Vielen Delegierten des SPD-Parteitags dürften ähnliche Gedanken durch den Kopf gehen. Sie haben am Sonntag zu entscheiden: Reichen die während der Sondierungsgespräche mit der Union vereinbarten Punkte aus, um in einer Groko den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden? Genügt dazu einmal mehr der Spatz in der Hand? Oder muss die Partei den mutigeren und zunächst wohl auch schmerzhafteren Weg gehen und versuchen, sich an die Taube auf dem Dach heranzuschleichen? Gilt es deshalb, den Stecker für eine weitere Zusammenarbeit mit der Union zu ziehen? Fakt ist: Bei den Sondierungsgesprächen hat die SPD-Spitze zwar viele kleinere Erfolge verbuchen können. Die Stichworte sind Grundrente, Rückkehr zur paritätischen Krankenversicherung und bessere Förderung von Langzeitarbeitslosen. Aber daneben stehen einige herbe Niederlagen - etwa beim Thema Bürgerversicherung oder beim Versuch, die sachgrundlose Befristung von Jobs zu kippen, mit der Millionen vor allem junger Arbeitnehmer zu kämpfen haben. Zudem fehlt ein großes sozialdemokratisches Leuchtturm-Projekt, das die eigene Klientel begeistern könnte. Das Dilemma der Delegierten Auch nach möglichen Koalitionsverhandlungen wird das so bleiben. Zwar sind die Sondierungsergebnisse noch keine konkreten Koalitionsvereinbarungen. Sie geben lediglich einen Rahmen vor. Änderungen an ihnen sind durchaus möglich. Doch diese werden kaum grundlegender Natur sein. Das hat die Union bereits deutlich signalisiert. Wer sich trotzdem der Illusion hingibt, den Konservativen in den kommenden Wochen deutliche Verbesserungen für Arbeitnehmer, Rentner, kinderreiche Familien, Hartz-IV-Empfänger, Flüchtlinge oder gar für die Umwelt abringen zu können, befindet sich auf einem feingedrechselten Holzweg. Die Sozialdemokraten stehen deshalb vor einem Dilemma: Stimmen sie am Sonntag gegen eine neuerliche Groko, beschädigen sie die Parteiführung. Votiert die Mehrheit für die Fortsetzung der Verhandlungen, läuft die Partei Gefahr, die eigene Identität weiter zu beschädigen. Den Vorwurf, sozialdemokratischen Groko-Gegnern fehle es an staatspolitischer Verantwortung, sollten die Delegierten am Sonntag ignorieren. Wer diese Messlatte anlegt, der muss auch CDU-Chefin Angela Merkel attestieren: Ihre kategorische Weigerung, notfalls eine Minderheitsregierung zu bilden, zeugt weder von Mut, noch von staatspolitischer Verantwortung. j.zinsen@zeitungsverlag-aachen.de
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