Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zur Türkei: "Der kranke Mann am Bosporus"
Regensburg (ots)
Als das osmanische Reich zu zerfallen begann, machte ein Begriff die Runde: Vom "kranken Mann am Bosporus" war die Rede. Krank ist die Türkei heute nicht mehr, zumindest wirtschaftlich gesehen nicht. Wer die Bilder vom Taksim-Platz sieht, wer hört, wie Regierungschef Recep Tayyip Erdogan über die Demonstranten spricht, dem ist schnell klar, dass das Bild vom kranken Mann aus dem 19. Jahrhundert heute doch gar nicht so falsch ist. Für die Heilung des Patienten gibt es viele Methoden; die in Europa derzeit am meisten diskutierte ist die Isolation. Was in der Türkei geschieht, sei der beste Beweis dafür, dass das Land nicht bereit ist für einen Beitritt in die Europäische Union, lautet die Argumentation vor allem der konservativen Parteien. Das ist im Ansatz richtig. Doch die Isolation, die der Türkei damit verordnet würde, löst das Problem nicht. Im Gegenteil. Man mag es als Fortschritt sehen, wenn Erdogan nun vorschlägt, über den Bau eines Einkaufszentrums auf dem Gelände des Gezi-Parks abstimmen zu lassen. Schließlich war der Protest gegen die Abholzung der Bäume dort Auslöser der Proteste. Aber mehr als ein Feigenblatt ist Erdogans Ankündigung nicht. Es geht nicht wirklich um Bäume. Es geht darum, was Erdogan mit seinem Land vorhat. Und er kann nicht ernsthaft glauben, dass er ernst genommen wird, wenn er es tagelang vorzog, mit seinem Volk per Wasserwerfer, Tränengas und Gummiknüppel zu kommunizieren. Dabei hatte Erdogans Regierung vielversprechend angefangen. Seine konservativ-islamische AKP hat das Land aus dem Tal geholt, in das die sekuläre Vorgängerregierung es gestürzt hatte. Er hat den Einfluss des Militärs zurückgedrängt und Reformen eingeleitet, von denen das Land bis heute wirtschaftlich profitiert. Nur hat sich seine Regierung gewandelt. Und einen Teil der Menschen nicht mehr mitgenommen. Dieser Teil setzt sich zusammen aus meist jungen, gebildeten Menschen, die sich von Erdogans zunehmend autoritärem Regierungsstil nicht mehr vorschreiben lassen wollen, wie sie leben sollen. Jüngst sorgte ein Gesetz zum nächtlichen Verbot von Alkohol für Wirbel. Außerdem sagte der Regierungschef, türkische Frauen sollten mindestens drei Kinder bekommen. Unter seinen Vorstößen sind auch abstruse, wie ein Gesetz, das Bäckern vorschreiben sollte, dass sie kein Weißbrot mehr backen sollten. Erdogan kann sich zwar auf eine breite konservative Wählerschaft berufen, die ihn stützt - nach wie vor. Schließlich wurde er mit absoluter Mehrheit gewählt. Aber dass nun auch Anwälte sich den Demonstranten anschließen, sollte ihm zu denken geben. Und die 50 Prozent der Stimmen für seine Partei bedeuten schließlich auch, dass die andere Hälfte der Wähler gegen ihn ist. Spätestens seit seinen abfälligen Bemerkungen über die Demonstranten, hinter denen er ausländische Provokateure vermutet, seit dem Einsatz brutalster Gewalt, die mittlerweile mehrere Tote gefordert hat, seitdem er die Polizei gegen Twitter-Nutzer vorgehen lässt, die wie einst im arabischen Frühling eine entscheidende Rolle in den Protesten spielen, ist klar, dass Erdogan Züge eines Despoten angenommen hat. Dass diese Entwicklung den Rest Europas und die Welt beunruhigt, ist verständlich. Nur muss auch klar sein, dass die bisherige Politik gegenüber der Türkei die Entwicklung im Inneren des Landes zumindest nicht verbessert hat. Die Türkei ist gerade nach den Wirren des arabischen Frühlings zu einer fast schon hegemonialen Macht aufgestiegen. Als islamisch-demokratisches Land richten sich viele Augen in der islamischen Welt auf Ankara, das zudem auch Nato-Mitglied ist. Während die Bedeutung der Türkei im Mittelmeerraum und in den Nahen Osten hinein gewachsen ist, frustriert die EU das Land durch seine zögerliche Haltung in Sachen Mitgliedschaft. Richtig ist: Erdogans Regierungsstil ist mit einem auf freiheitlichen Werten aufgebauten Staatensystem wie der EU nicht vereinbar. Richtig ist auch, dass eine Partei wie Erdogans AKP, die hinter seinen jüngsten Vorschlägen steht, sich als modernisierende Kraft disqualifiziert hat. Daraus zu schließen, dass eine Abkehr der EU von Ankara die richtige Lösung wäre, ist aber falsch. Sie würde all jene bestrafen, die sich jeden Abend den Wasserwerfern, dem Tränengas und den Gummiknüppeln stellen - in der Hoffnung, dass ihr Land ein modernes werden kann. Die Türkei braucht Hilfe, nicht Bestrafung. Autor: Christian Kucznierz
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