Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Katia Meyer-Tien zum Bahnstreik
Regensburg (ots)
Lokführer, Piloten und Logistikarbeiter haben alle eines gemeinsam: Mit großangelegten Streikaktionen drängen sie in diesen Wochen immer wieder in die Öffentlichkeit. Und so unterschiedlich die Forderungen der Betroffenen sind: Es ist kein Zufall, dass es gerade diese Berufsgruppen sind. Sind sie doch in großem Maße von jenem Wandel betroffen, der unsere Gesellschaft mit größtmöglicher Mobilität in die Zukunft führen soll: Personen und Güter müssen immer günstiger und schneller von einem Ort zum anderen gelangen. Die Streikenden erleben eine Arbeitswelt im Umbruch, in der die einen bangen um einst garantierte Karriere- und Alterssicherungssysteme und die anderen kämpfen für eine Vergütung, die den veränderten Anforderungen gerecht wird. Eine weitere Gemeinsamkeit haben die Streiks in diesen Wochen: Diejenigen, die unter den Ausständen leiden, sind vermeintlich unbeteiligte Dritte. Streiken die Lokführer der Deutschen Bahn, die Piloten der Lufthansa oder die Paketsortierer bei Amazon, so sind es zwar auch die Fluggesellschaften oder Logistikunternehmen, die großen finanziellen und immateriellen Schaden davontragen. Es sind darüber hinaus aber auch Tausende andere betroffen, die keinerlei unmittelbaren Einfluss auf die Erfüllung oder Nichterfüllung der Forderungen nehmen können: Geschäftsreisende und Urlauber, die geplante Meetings oder langersehnte Pauschalreisen verpassen, ebenso wie Unternehmen, bei denen die Produktion zum Erliegen kommt, wenn dringend benötigte Teile nicht mehr geliefert werden. Sinnvoll klingt da die Forderung, in solchen Fällen, in denen Dritte massiv betroffen sind, ein geändertes Streikrecht einzuführen. Eine gesetzliche Regelung, die lange Vorlaufzeiten vorsieht, so dass sich alle Betroffenen auf den Ausstand einstellen können. Und doch würde eine solche Regelung das Streikrecht massiv schwächen. Denn Arbeitskämpfe müssen wehtun, um überhaupt etwas bewirken zu können. Dabei ist es höchst problematisch, dass es momentan ausgerechnet Spartengewerkschaften wie die GdL und die Pilotenvereinigung Cockpit sind, denen es am effektivsten gelingt, immer wieder große Teile des öffentlichen Lebens lahmzulegen, um ihre teils machtpolitisch motivierten Partikularinteressen durchzusetzen. Und dass sie dabei den Eindruck entstehen lassen, als seien sie an einer ernsthaften Kompromisslösung des Konfliktes am Verhandlungstisch kaum interessiert: So erscheinen die Arbeitskämpfe tatsächlich als demokratisch legitimiertes Erpressungsmanöver. Das geplante Tarifeinheitsgesetz soll dem Einfluss von Kleingewerkschaften Schranken setzen. Das kann als wichtiges Korrektiv dienen und soll verhindern, dass das Streikrecht für die Durchsetzung von Partikularinteressen missbraucht wird. Das Streikrecht darüber hinaus zu beschränken, wäre allerdings gefährlich: Es muss Arbeitnehmern möglich sein, auf Missstände aufmerksam zu machen und für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Gelingt das nicht am Verhandlungstisch, kann es - als letztes Mittel - notwendig sein, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und so politische Entscheidungsprozesse anzustoßen, einen öffentlichen Diskurs über die Maximen, die für die Arbeitswelt in unserer sich wandelnden Gesellschaft gelten sollen. Wie wichtig sind Kündigungsschutz und faire Bezahlung? Welche Sonderregelungen sollen für welche Berufsgruppen in welchem Alter gelten? Und auch: Wie soll Arbeitnehmervertretung in Zukunft gestaltet werden? Viele der Fragen, für die heute auch gestreikt wird, sind Fragen, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Und wenn dem so ist, dann ist es auch legitim, wenn auch die gesamte Gesellschaft von den Folgen des Streiks betroffen ist. Denn jeder einzelne kann auch Einfluss auf die langfristigen Ergebnisse dieser Streiks nehmen. Vielleicht nicht unmittelbar, aber auf jeden Fall am nächsten Wahlsonntag.
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