Mittelbayerische Zeitung: Puzzleteile sammeln an der Isar/In einer Welt, die von Chaos und Unsicherheit geprägt wird, ist das Reden miteinander schon ein Wert an sich. Von Reinhard Zweigler
Regensburg (ots)
Gustav Stresemann, der legendäre nationalliberale Außenminister der Weimarer Republik, hinterließ der Nachwelt nicht nur den nach ihm benannten Anzug. Bleibendes Ansehen erwarb er sich vor allem damit, in der Außenpolitik immer auch nach den Interessen der anderen Nationen zu fragen, die Welt aus den Augen der anderen zu betrachten. Stresemann, dem es diplomatisch gelang, die Lasten des Versailler Vertrages für Deutschland zu mildern, dachte multilateral, gerade weil dies der eigenen Nation diente. Die Münchner Sicherheitskonferenz, jahrzehntelang eine Art nordatlantisches Klassentreffen, hat sich zu einem Diskussionsforum sehr unterschiedlicher internationaler Akteure gemausert. Und gerade jetzt, da Chaos, Ungewissheit und Unsicherheit die Weltbühne bestimmen, da Abrüstungsverträge zerrissen werden und der Nationalismus marschiert, ist ein Format wie das an der Isar so enorm wichtig. Die Erwartungen sind riesig, wenngleich von der Konferenz keine Wunderdinge zu erwarten sind. Das Treffen der Elite der Diplomatie kann die internationalen Beziehungen nicht wieder in Ordnung bringen. Wer sammelt jetzt die Puzzleteile auf, hatte Wolfgang Ischinger im Vorfeld der Konferenz wenig optimistisch gefragt. Zumindest kann das Reden miteinander, über gravierende Unterschiede und erhebliche Differenzen hinweg, dabei helfen, die Puzzleteile der internationalen Sicherheit auf dem Tisch zu behalten. Das ist zwar nicht viel, aber immerhin mehr als nichts, mehr als weitere Eskalation, mehr als die weitere Verschlechterung der internationalen Beziehungen. Ein mächtiges Deutschland mache ihm weniger Angst als ein untätiges, meinte der ehemalige polnische Außenminister Radek Sikorski. In einer Zeit, in der Großmachtkonflikte aufflammen, in der America-first-Präsident Donald Trump das nordatlantische Bündnis infrage stellt und Handelsstreitereien mit China und der EU anzettelt, in der Putin vertragswidrig neue Mittelstreckenraketen in Stellung bringt, müsste Deutschland eigentlich mehr internationale Verantwortung übernehmen. Doch Berlin tut sich schwer damit, diese neue Rolle auch zu übernehmen, und verschanzt sich lieber hinter der EU. Wo ist eigentlich die deutsche Initiative, um das sich lange schon abzeichnende Ende des INF-Vertrages noch abzuwenden? Wo ist der Versuch, die beiden Alphatiere Trump und Putin einzuhegen, damit die nicht ein neues atomares Wettrüsten vom Zaume brechen? Hans-Dietrich Genscher wäre vermutlich die letzten Wochen unermüdlich zwischen Washington und Moskau, zwischen Brüssel, London und Paris hin und her gependelt. Derlei Pendeldiplomatie ist von Heiko Maas nicht zu erkennen. So richtig brandgefährlich für Europa können Putins neue Raketen werden. Aber auch die sind nicht neu. Zum Glück fordert nun niemand, von vereinzelten Stimmen in Polen abgesehen, dass der Westen ebenfalls mit neuen Atomraketen auf die russische Bedrohung antwortet. Doch zumindest müsste Moskau militärisch eine wirkliche konventionelle Antwort, man könnte auch sagen Abschreckung, entgegengesetzt werden. Die Bundeswehr im jetzigen Zustand kann das nicht leisten. Auf der anderen Seite jedoch muss sich Berlin, der Westen insgesamt, eingestehen, dass die - freilich nur halbherzigen - Sanktionen gegen Russland die Sicherheit nicht erhöht, Moskau nicht zur Umkehr bewegt haben. Die ehemaligen Ostblock-Staaten vom Schwarzen Meer bis ins Baltikum wurden in EU und Nato integriert. Russland dagegen wurde, nach einigen Jahren des Tauwetters in den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahre, die eisigkalte Schulter gezeigt. Auch über dieses Puzzle sollte in München diskutiert werden.
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