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Der Schattenpräsident
Joe Biden taucht nach Wochen der Corona-Quarantäne wieder in der Öffentlichkeit auf. Doch nicht in der Rolle des Herausforderers Donald Trumps. Leitartikel von Thomas Spang

Regensburg (ots)

Amerika droht in den Modus einer Dauerkrise zu geraten. Es bekommt die Covid-19-Pandemie nicht unter Kontrolle, die bereits mehr als 100 000 Menschenleben gefordert hat. Mit über 40 Millionen Arbeitslosen haben die wirtschaftlichen Probleme erst angefangen. Und die Massenproteste in Amerikas Städten nach dem Tod des Schwarzen George Floyd werden von einer so tief sitzenden Wut über strukturellen Rassismus angetrieben, dass kein schnelles Ende zu erwarten ist. Eine Pandemie wie 1918, Unruhen wie 1968 und Wirtschaftsprobleme wie 2008 - so viele Krisenherde auf einmal brannten noch nie in den USA. Und nie zuvor gab es so wenig Führung aus dem Weißen Haus. In diese Lücke stößt Joe Biden, der kurz davor steht, die Nominierung seiner Partei auch formal im Sack zu haben. Mit einer Art "Rede an die Nation" aus dem Rathaus von Philadelphia ließ Biden die Amerikaner spüren, wie man eine Nation in Aufruhr zusammenbringen kann. Mit ruhiger Hand nahm der 77-Jährige die Schutzmaske vor seinem Gesicht ab. "Ich kann nicht atmen", sagte er mit entschlossenem Blick in die Kamera und erinnerte daran, dass dies die letzten Worte George Floyds waren. Dann schlägt er eine assoziative Brücke zwischen dem Covid-19-Erreger, der den Opfern die Luft nimmt, und der Pandemie des Hasses. "Ich kann nicht atmen", sei das, was Millionen Amerikaner nicht in ihren letzten Momenten, sondern in ihrem Alltag erlebten. Es sei Zeit darauf zu hören. So klingen die Worte eines Präsidenten, der die Nation angesichts einer historisch beispiellosen Doppelkrise tröstet, aufbaut und führt. Doch sie kommen nicht aus dem Mund des Amtsinhabers, sondern seines Herausforderers. Trump ist nicht nur abwesend, sondern gießt Öl ins Feuer. Er macht das lebensrettende Tragen von Masken während der Pandemie zu einem Politikum und droht, das Militär gegen Amerikaner einzusetzen, die grundlegende Veränderungen im Land verlangen. Als wären Andersdenkende Feinde. Den letzten Funken an moralischer Autorität verlor der Präsident, als er friedliche Demonstranten mit Gummigeschossen und Tränengas vertreiben ließ, um für ein Foto mit Bibel vor der St. John's Kirche posieren zu können. Zurück bleibt ein Vakuum, das gefüllt werden muss. Diese Erkenntnis dämmerte auch im Beraterkreis des designierten Präsidentschaftskandidaten der Demokraten. Zum Beispiel Senator Chris Coons aus Bidens Heimatstaat Delaware, der den Stellvertreter des ersten schwarzen Präsidenten im Weißen Haus einzigartig auf diesen Moment vorbereitet sieht. Coons wünscht sich deshalb, mehr von Biden in der Öffentlichkeit zu sehen. Zum Beispiel in Minneapolis, dem Epizentrum der Bürgerrechts-Proteste, wo Floyd unter dem Knie eines weißen Polizisten einen qualvollen Foltertod starb. Sicher ist, dass Biden auf Einladung der Familie am Dienstag nach Houston reisen wird, um an der Beerdigung teilzunehmen. Eine unübersehbare Geste, die einen Kontrast zu dem Amtsinhaber schafft, der lieber darüber faselt, Demonstranten zu "dominieren" als Anteilnahme zu zeigen. Diese Unfähigkeit zur Empathie kann Biden für sich nutzen. Und er tat es, als er in den vergangenen Tagen vorsichtig aus der Quarantäne auftauchte. Doch mit Reden allein ist es vor allem für die jungen Aktivisten nicht getan. Sie erwarten mehr von dem Mann, dessen Kandidatur die Afroamerikaner mit dem politischen Wunder am Superdienstag rettete. Jetzt sei es an ihm, dem schwarzen Amerika in der Doppelkrise aus Pandemie und Polizeigewalt zu helfen. Seine Strategen erkennen, dass er sich in diesem Moment nicht als Präsident des "Übergangs" verkaufen kann, sondern einer, der grundlegende Reformen anbietet. Biden scheint zu verstehen, dass er die Stimmung auf der Straße aufnehmen und für Veränderungen nutzen muss. Deshalb kehrte er nicht als Kandidat, sondern als Schattenpräsident ins öffentliche Leben zurück.

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