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Empörung nicht nur über Benedikt
Ein Gutachten geht mit dem emeritierten Papst hart ins Gericht. Kirchenmänner müssen lernen, Missbrauch zu benennen. Von Dr. Christian Eckl

Regensburg (ots)

Missbrauch an Kindern ist eines der widerwärtigsten Verbrechen, die Menschen unschuldigen Geschöpfen antun können. Kommt der Täter im Gewand eines Priesters, erschüttert die Tat umso mehr: Ausgerechnet jemand, der im Namen christlicher Nächstenliebe handeln soll, wird zum Verbrecher, zum Schänder. Diese moralische Diskrepanz zwischen Tat, Täter und Anspruch an ihn hat dem Missbrauch in der Kirche seit 2010, als die Wunden in Deutschland erstmals aufbrachen, eine besondere Dramatik gegeben. Kein Wunder, dass genau hingesehen wird, wenn der Verdacht besteht, ein späterer Papst habe seine Aufgabe als Hirte sträflich missachtet, einen überführten Täter wiedereingesetzt, der Kindern neuerliches Leid verursachte. Die Ergebnisse des Gutachtens einer Rechtsanwaltskanzlei über Missbrauchsfälle im Erzbistum München und Freising zwischen 1945 und 2019 sind erschütternd. Die Anwälte, die neben Personalakten auch Zeitzeugen und Opfer konsultierten, sprachen von einer "Bilanz des Schreckens". Auch die Rolle des früheren Erzbischofs und späteren Papst Benedikt XVI. beleuchteten die Gutachter auf mehr als 300 Seiten in einem Sonderband. Sie überführten, man kann es nicht anders nennen, den emeritierten Papst anhand von Protokollen aus Sitzungen, sich zumindest in seiner Erinnerung getäuscht zu haben. Seine Kritiker werden ein härteres Wort dafür finden. Doch neben der Rolle Benedikts und weiterer hoher Kirchenverantwortlicher stellen sich noch andere Fragen. Zum Beispiel diese: Wie achtsam ist die Gesellschaft beim Schutz von Missbrauchsopfern? Und trifft der Vorwurf zu, die Kirche tue zu wenig, um die Fälle, die oft weit zurückliegen, doch noch aufzuklären? Abschließende Zahlen gibt es noch nicht, doch eine unabhängige Studie im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz auf Grundlage der Personalakten aus den Bistümern kam zu dem Ergebnis, dass in Deutschland seit 1946 etwa 3700 Kinder und Jugendliche in kirchlichen Einrichtungen missbraucht wurden. Allein im Erzbistum München-Freising waren es seit Kriegsende 497 Opfer. Jeder Fall ist einer zu viel. Doch gleichzeitig weist die Kriminalstatistik für das Jahr 2020 aus, dass es mehr als 80 000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gab. Allein 1102 Fälle sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen zählt die Statistik letztes Jahr auf. In fast 19 000 Fällen wurden kinderpornografische Schriften verbreitet. Diese Zahlen exkulpieren die Kirche nicht. Aber sie machen deutlich, dass Missbrauch ein viel schwerwiegenderes gesellschaftliches Problem ist. Der Aufschrei müsste also lauter sein - und er dürfte sich nicht nur an Bischöfen, Kardinälen und Päpsten entzünden. Selbst der Vorwurf, die Kirche zahle den Opfern nur "Peanuts", ist schlicht falsch: Bis zu 50 000 Euro bekommen anerkannte Opfer von Priestern ausbezahlt. Schmerzensgeld-Zahlungen vor Gerichten bewegen sich äußerst selten über 10 000 Euro. Wer diese Summen angesichts einer zerstörten Kinderseele beklagt, der sollte sich zunächst an den Bundesjustizminister, nicht an den früheren Erzbischof Ratzinger und späteren Papst wenden. Die Kirche hat Schuld auf sich geladen. Auch Ratzinger. Er wird sich, auch wenn er nicht juristisch belangt werden kann, wohl im Angesicht seines Schöpfers verantworten. Doch weder Ratzinger, noch die Kirche eignen sich als Blitzableiter, wenn es darum geht, das riesige Problem des Missbrauchs aufzuarbeiten. Nur die Gesellschaft kann den Opfern eine Stimme geben. Missbrauch und der Umgang damit ist, wie die Gutachter mitteilten, bis heute ein Problem. Doch es ist nicht nur ein Kirchliches. Benedikts abwehrende Haltung sollte Mahnung sein: "Ich habe es nicht gewusst" ist keine Entschuldigung.

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