BLOGPOST: "Clicktivism is not the answer: Warum politische Teilhabe im Netz mehr sein muss als Klicks"
In sechs Tagen sind Bundestagswahlen. Wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein? Meinungsforschern zufolge sehr hoch. Politische Teilhabe ist wichtig für eine funktionierende Demokratie. Auch im Netz kann man sich engagieren. Bloßes Klicken, Liken und Teilen greift aber viel zu kurz. Meint unser TREIBSTOFF-Gastautor Daniel Rehn, Digital Trend Scout bei achtung!
Von Daniel Rehn
Dieser Beitrag hätte eigentlich ein ganz anderer werden sollen. Einer, der sich mit den Hoffnungen beschäftigen sollte, die man damals, in den Anfangszeiten des Internet, in die Vernetzung, das Kollaborative und Verbindende des Webs setzte. Auch und gerade auf politischer Ebene, um Menschen miteinander zu verbinden, ihnen Raum für konstruktiven Dialog zu geben und Diskussionen miteinander zu führen, die der guten Sache im Ganzen dienen. Doch nun, wenige Tage vor der Bundestagswahl, ist dieser Beitrag nicht mehr das, was er hätte sein können.
Die Ausgangsfrage wäre einfach gewesen: Kann politische Teilhabe im Netz konstruktiv und mehr sein als Clicktivism?Clicktivism, das Kunstwort aus "Click" und "Activism", meint (politische) Beteiligung an einer Sache unter geringster Anstrengung, da ein paar Klicks schon ausreichen, um sich mit ihr gemein zu machen. Der Begriff bahnte sich spätestens 2012 seinen Weg in das Bewusstsein der (Netz-)Öffentlichkeit.
Damals, als man mit einer großangelegten Netzkampagne versuchte den Anführer der Lord's Resistence Army (LRA) ausfindig und dingfest zu machen. Der Name des Gesuchten: Joseph Kony oder auch nur "KONY", wie er in großen Lettern in einem ersten, aufwändig produzierten und später zum Viral gewordenen Video "KONY 2012" sowie unzähligen Motiven, Plakaten, Stickern und Beiträgen zu sehen war. Millionen von Menschen sahen den Film und klickten die Petitionen zur Ergreifung des Warlords, der mit seiner LRA Teile Ugandas, des Kongos, des Südsudans und der Zentralafrikanischen Republik terrorisierte.
Die von der Organisation "Invisible Children Inc." angestoßene Kampagne sorgte für ein nie zuvor dagewesenes Interesse an der Region, dem dortigen Leid und der Person Konys. Die Weltöffentlichkeit und politischen Führer konnten den Blick nicht mehr davor verschließen. Und tatsächlich, wenig später kündigte die Afrikanische Union an, 5.000 Soldaten ins Gebiet zu entsenden, um Kony zu fassen. Der UN-Sicherheitsrat stimmte dem Vorhaben zu und die US-Regierung unter Barack Obama setzte Anfang April 2013, gut ein Jahr nach Beginn der Kampagne, ein zusätzliches Kopfgeld von fünf Millionen US-Dollar aus.
War Clicktivism damals die Antwort, um Menschen tatsächlich für das Geschehen auf der Welt zu interessieren und zu einer Teilhabe zu bewegen? Es schien so. Obamas zweiter erfolgreicher Wahlkampf, der erneut massiv auf das Netz setzte, war für viele ein weiterer Beweis dafür, dass man die Leute über das Web abholen könne, um sie politisch zu bewegen und ihren Stimmen im Digitalen noch mehr Gewicht zu geben.
Keine Bewegung ohne Gegenbewegung - oder gar keiner Bewegung
Die Realität ist allerdings eine andere. Die damals knapp 32 Millionen US-Dollar an Spendengeldern, die "Invisible Children Inc." als Macher des ersten Videos sammelte, gingen nicht an die afrikanischen Behörden, um eine Ergreifung mit diesen Geldern zu forcieren, sondern wurden teils in die Produktion eines weiteren Films gesteckt, der erneut zur Suche und Festnahme Konys aufrief. Das Ergebnis: Kony ist immer noch auf freiem Fuß. Und unabhängig davon, auch der politische Diskurs im Netz hat sich nicht zum Besseren gewendet, um mehr zu tun, als sich mit einigen Klicks für die gute Sache einzubringen. Im Gegenteil.
Das Problem damals wie heute und seit jeher: Zu jeder Bewegung gibt es eine Gegenbewegung. Oder im Fall von Clicktivism als politische Teilhabe: keine Bewegung. Denn so einfach und erfolgsversprechend Clicktivism dank des (Social) Web daherkommt, die Wirkungen und Dynamiken im Netz schwappen zu selten bis gar nicht in die Kohlenstoffwelt über. Petitionen auf change.org und Co., Stimmabgaben und ausgefüllte Listen ohne realpolitische Relevanz und Wirkung, Posts auf Facebook und veränderte Profilbilder: Das alles hat oftmals am Ende keinen weiteren Drive und bleibt nur ein symbolischer Akt, den man als "Slacktivism" kennt. Der vermeintlich Aktive hat das gute Gefühl etwas getan zu haben, aber es bleibt die Frage, wie (politisch) engagiert man wirklich ist, wenn es nicht einmal dazu führt sich über einen Info-Trailer hinaus zu informieren, sich über einen Klick hinaus einzusetzen oder gar für einen tatsächlichen Protest auf die Straße zu gehen.
Wobei man klar sagen muss: Internet-Aktivismus kann mehr sein als ein plumper Aufruf etwas im Netz zu tun, wenn die Strukturen dahinter stimmen. Es kann einen starken Trigger haben, der in der Lage ist, eine Handlung anzustoßen, die über das Digitale hinausgeht. Ja, im besten Fall folgt auf Internet-Aktivismus gar eine inhaltliche Auseinandersetzung, die zur Meinungsbildung beiträgt und / oder stark genug ist, um einer sachlichen Diskussion Stand zu halten. Und es gibt Beispiele, die zeigen, dass das möglich ist.
Einige der größten Netzphänomene der jüngeren Vergangenheit, die den Sprung ins Analoge schafften, Menschen in Masse bewegten und ins Netz zurückkehrten: die Ice Bucket Challenge oder auch die #BlackLivesMatter-Bewegung, die die Menschen dazu bewegten, etwas zu tun und die Aussage im Netz weiterzutragen.
Die Bequemlichkeit des Netzes als Fallstrick für politische Teilhabe
Doch so, wie sich diese Beispiele mit ihrem Einsatz für ein soziales wie auch gesellschaftliches Anliegen in Bewegung setzen konnten, fällt es im politischen Kontext schwer, Ähnliches zu schaffen, da gleich eine Vielzahl an Faktoren Einfluss ausüben. Die Bequemlichkeit des Netzes, die in Clicktivism und Slacktivism ihren vermeintlichen Höhepunkt findet. Eine immer größer werdende Politikverdrossenheit in der Bevölkerung. Eine für viele nicht nur gefühlte Entfremdung der Politik zum realen Leben. Das alles hat bei vielen eine Trägheit ausgelöst, die sich über die letzten Jahre auch "Dank" Echokammern wie Facebook mit seinen auf Meinungsbestätigung statt Diversität fokussierten Newsfeeds in einer Art und Weise manifestiert hat, dass wir nicht erst kurz vor der Bundestagswahl teils wie gelähmt vor der auf Konfrontation, Zuspitzung, Derailing und Unwahrheiten basierenden Kommunikation selbsternannter politischer Alternativen im Wahlkampf stehen.
Eine Bewegung, die vom rechten Rand kommend verstanden hat, nicht nur aus "Slackern" tatsächlich Aktive zu machen, die auf die Straße gingen, montags öffentlichkeitswirksam durch Dresden und weitere Städte zogen und das Bild vermittelten, dass man mit einer Meinung, die man ja wohl noch einmal sagen dürfe, nicht allein ist. Ausgerechnet jene schaffen es nun, all diese reale Dynamik nicht erst seit gestern immer wieder ins Netz zu kippen, um so den politischen Diskurs bis in die Prime Time hinein vorzugeben.
Gerade jetzt, wenige Tage vor dem Gang zur Wahlkabine, legt man nochmals nach. Negative Campaigning gegen die Regierungsspitze, welches man mit Hilfe von Trumps Wahlkampfhelfer Vincent Harris inszeniert, erreicht ein Level, das man in Deutschland noch nicht kannte. Mehr noch: Ausgerechnet jene Strippenzieher finden im Netz die Mechaniken vor, um Gruppierungen zu formieren, zu steuern und ihren Anhängern Futter an die Hand zu geben, um dort ein Klima zu befeuern, das den Gedanken an ein Internet als sozialen Raum für konstruktiven Austausch wie einen Fiebertraum erscheinen lässt.
Der Ton im Netz war schon immer rau. Godwin's Law kommt bei allem Sarkasmus schließlich nicht von ungefähr. Im Analogen zieht dieser raue Ton nun nach. Man befeuert sich vom Analogen ins Digitale und vom Digitalen ins Analoge.Was bleibt ist die Frage, wie ein Ausweg aus diesem Dilemma aussehen kann. Ein Ausweg, der bei jedem Einzelnen ansetzt und auch funktionieren kann. Clicktivism alleine ist es nicht. Counter Speech wird immer wieder ins Feld geführt, zeigt sich im Netz aber häufig als erstaunlich wirkungslos, da man als Einzelner im Meer der Hasskommentare oft untergeht. Gruppen und Mechaniken wie die von #ichbinhier organisierte Gegenrede sind immerhin wichtige Zeichen, damit Hass nicht als neue Normalität verstanden wird. On- wie offline im eigenen Bekanntenkreis anzusetzen, statt Unbekannte in postfaktischen Zeiten überzeugen zu wollen, ist zielführender.
So oder so, eines ist dabei sicher: Es wird keine einfache Antwort geben und sie braucht mehr als ein paar Klicks.
Für gewöhnlich hat Daniel Rehn (31) nur wenig mit Politik zu tun. Im Rahmen des #30u30-Camps kamen der Digital Trend Scout der Agentur achtung! sowie weitere Alumni der Initiative des PR Report in Hamburg zusammen, um unter dem Motto "Doing Democracy" über Demokratie und Politik zu diskutieren. Während des Camps diskutierte er mit den Teilnehmern Clicktivism und blickt nun, kurz vor der Bundestagswahl, auf der Suche nach Antworten auf die Entwicklungen und Dynamiken im (Social) Web.
Dieser Beitrag ist ein Original-Blogpost aus TREIBSTOFF:
https://www.newsaktuell.de/academy/clicktivism/
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