Landeszeitung Lüneburg: Interview mit der Bundestagsabgeordneten Brigitte Pothmer (Grüne) über Arbeitsmarktpolitik und das schwarz-grüne Bündnis in Hamburg
Lüneburg (ots)
Die Grünen wollen neben dem Bereich Umweltpolitik vor allem mit arbeitsmarktpolitischen Themen in die kommenden Wahlkämpfe ziehen. Joschka Fischer, einstige Galionsfigur der Grünen, geht davon aus, dass sich die Partei als ,,entscheidender Veränderungsfaktor des deutschen Parteiensys"tems" erweisen wird. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Brigitte Pothmer ist da etwas zurückhaltender. ,,Wir sind in einer interessanten Situation", sagte sie in einem Gespräch mit unserer Zeitung. Sie würde sich darüber freuen, wenn es mit der schwarz-grünen Koalition in Hamburg klappt. Auch bei künftigen derartigen Koalitionen sei es aber entscheidend, wie viel grüne Politik durchsetzbar ist.
Jahrzehntelang war Vollbeschäftigung das oberste Ziel für Arbeitsmarktpolitik, Mitte der 90er-Jahre wurde es dann sehr ruhig um dieses Thema, doch jetzt ist es wieder aktuell. Glauben Sie, dass Vollbeschäftigung in naher Zukunft erreicht werden kann? Brigitte Pothmer: Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es möglich ist, der Vollbeschäftigung nahe zu kommen. Das belegen Beispiele in europäischen Nachbarländern. In Dänemark und Schweden herrscht beispielsweise Vollbeschäftigung. Die werben sogar inzwischen bei uns um Fachkräfte. Die moderne Industriegesellschaft ist also prinzipiell in der Lage, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Das setzt aber die richtigen politischen Rahmenbedingungen voraus. Die Chancen dafür stehen in Deutschland allerdings im Moment nicht gut. Die Große Koalition hat es versäumt, den Aufschwung für dringend notwendige Strukturveränderungen zu nutzen. Sie ist nur Trittbrettfahrerin der guten Konjunktur. Hilft nicht auch der demographische Wandel beim Erreichen der Vollbeschäftigung? Pothmer: Nein, der demographische Wandel wird das Problem nicht lösen. Alle Experten sagen voraus, dass wir es weiter mit einem geteilten Arbeitsmarkt zu tun haben werden. Auf der einen Seite wird es einen Anstieg des Fachkräftemangels geben, auf der anderen Seite einen Anstieg von Arbeitslosen, die schlecht qualifiziert sind. Für diese Gruppe gibt es in Deutschland nicht mehr genügend Arbeitsplätze. Deswegen muss man jetzt alles tun, um sie zu qualifizieren. Das Bundesministerium für Arbeit, die Bundesagentur für Arbeit und der Deutsche Städtetag bezeichnen die Hartz-IV-Reformen als Erfolg, denn seit Inkrafttreten am 1. Januar 2005 sank die Zahl der Arbeitslosen um 1,7 Millionen. Sind die Reformen Ihrer Meinung nach ein Erfolg? Pothmer: Die Hartz-Reformen haben Licht und Schatten. Dass wir 1,7 Millionen Arbeitslose weniger haben, hat sicher damit zu tun, dass die Vermittlungsbemühungen verbessert worden sind. Aber in erster Linie hat der Konjunkturaufschwung zur Reduzierung der Arbeitslosenzahl beigetragen. Die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt wäre also auch ohne Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe möglich gewesen? Pothmer: Nein, gerade die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war ein richtiger Fortschritt insbesondere für die Sozialhilfeempfänger, denn die haben jetzt auch endlich Anspruch auf Vermittlung, Qualifizierung und Förderung. Diese Gruppe wurde bisher einfach links liegen gelassen. Davon profitieren vor allem Frauen. Die dürfen jetzt nicht länger mit Sozialhilfe abgespeist werden. Insofern hat Hartz IV an dieser Stelle einen positiven Beitrag geleistet. Ich finde es nur vermessen, so zu tun, als wenn die Reformen für den Aufschwung am Arbeitsmarkt verantwortlich sind. Aber seit 2005 haben auch 700000 Langzeitarbeitslose wieder einen Job bekommen. Pothmer: Ja, und das ist auch gut so. Aber ich gebe zu bedenken, dass bei einem Abschwung vermutlich genau diese Menschen als erste befürchten müssen, wieder arbeitslos zu werden. Außerdem sind nach wie vor 2,4 Millionen arbeitslose Menschen von Arbeitslosengeld II abhängig. Laut dem Institut für Wirtschaftsforschung in Halle werden künftig immer mehr Arbeitnehmer einen Zweitjob benötigen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Schuld daran sind die eher moderaten Einkommenserhöhungen und vor allem die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten. Was kann, was sollte der Staat tun, um hier gegenzusteuern? Pothmer: Während die Einkommen der Besserverdienenden angestiegen sind, haben die Geringverdiener real weniger Geld in der Tasche. Deswegen brauchen wir Mindestlöhne. Und wir müssen das progressive System, das bei der Steuer gilt, auch auf die Sozialversicherungsbeiträge anwenden. Dann zahlen Geringverdiener prozentual geringere Beiträge als Gutverdiener und haben damit mehr netto in der Tasche. Darüber hinaus müssen auch die Regelsätzen des Sozialgesetzbuches II angepasst werden. Menschen mit geringen Einkommen geben ihr Geld weitestgehend für Nahrungsmittel und Energiekosten aus. Diese Kosten müssen bei der Neuberechnung der Regelsätze anders berücksichtigt werden. Eine durchschnittliche Inflationsrate von drei Prozent für alle bedeutet für Geringverdiener, dass sie rund sechs Prozent zu verkraften haben. Das muss auch über eine Neuberechnung der Regelsätze ausgeglichen werden. Die Regelsätze sind gerade angehoben worden. Zudem ist gerade die Anhebung des Wohngeldes beschlossen. Reicht das nicht aus? Pothmer: Die Regelsätze sind im Juli vergangenen Jahres um 2 Euro angehoben worden. Damit sind die Preissteigerungen bei weitem nicht ausgeglichen. Und die Anhebung des Wohngeldes haben die Grünen schon lange gefordert, weil Mieten plus Nebenkosten und nicht nur die Kaltmieten finanziert werden müssen. Insofern sind wir froh, dass das Bundeskabinett in diese Richtung marschiert. Aber wir müssen abwarten, was am Ende wirklich dabei herauskommt. Sind Mindestlöhne nicht beschäftigungsfeindlich -- wie es die meisten Wirtschaftsinstitute behaupten? Pothmer: Die Wirtschaftsins"titute sind nicht in der Lage diese Behauptung auch nur ansatzweise empirisch zu belegen. In den meisten Nachbarländern, die auch in wirtschaftlicher Hinsicht mit Deutschland vergleichbar sind, gibt es Mindestlöhne. In Großbritannien etwa hat das nicht zu einem Verlust von Arbeitsplätzen geführt, sondern zum Gegenteil. Durch die bessere Binnenkonjunktur sind zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. In den Mindestlohndebatten im Bundestag kommt von den Mindestlohnblockierern viel Ideologie aber kein Argument. CDU und FDP bleiben hier wirklich unter ihrem intellektuellen Niveau. Das Beispiel der pleite gegangenen PIN-Group wird gerne herangezogen... Pothmer: PIN hatte schon wirtschaftliche Schwierigkeiten, lange bevor es um die Einführung der Mindestlöhne ging. Wenn PIN mit Ausbeutungslöhnen kalkuliert hat, dann war das eine Fehlkalkulation und die Pleite ist verständlich. Im Briefsektor herrscht ein harter Verdrängungswettbewerb. Ohne Mindestlöhne würden hier ordentlich bezahlte Arbeitsplätze durch Billigjobs ersetzt. Senkung der Lohnnebenkosten, mehr Wohngeld, Hartz-IV-Aufstockung, höherer Kinderzuschlag -- das ist im Prinzip Verteilungspolitik. Sollte der Staat nicht besser noch stärker in Bildung inves"tieren, weil nur eine gute Ausbildung dafür sorgen kann, dass man nicht in den Armutsbereich abrutscht? Pothmer: Unser Anti-Armuts-Programm umfasst ein breites Spektrum von Maßnahmen. Ganz oben steht, dass wir die Infrastruktur für frühkindliche Förderung und Bildung verbessern wollen, damit Armut sich nicht immer weiter ,,vererbt". Es kann nicht richtig sein, dass Schulen davon ausgehen, dass Eltern quasi Nachhilfelehrer sind. Da, wo die Eltern dies nicht können, sind die Kinder extrem benachteiligt. Man muss auch wissen, dass ein zu geringes Einkommen Ausgrenzung zur Folge haben kann: Wenn ein Kind sich nicht mehr traut, zum Kindergeburtstag zu gehen, weil es nicht in der Lage ist, ein Geschenk mitzubringen; wenn es nicht mit ins Kino gehen kann, wenn es sich das Schulessen nicht leisten kann, findet Ausgrenzung statt. Wir wollen eine Infrastruktur schaffen, die Kindern gleiche Startchancen ermöglicht. Dafür braucht man Geld, das an anderer Stelle erwirtschaftet werden muss, beispielsweise durch Eindämmung von Steuerbetrug, durch Änderungen beim Ehegattensplitting oder über eine höhere Besteuerung sehr großer Erbschaften. Der Ausbau der Kinderbetreuung verschlingt schon vier Milliarden Euro. Worauf soll sich der Staat in erster Linie konzentrieren: geringere Lohnnebenkosten oder weitere Bildungsinvestitionen? Pothmer: Für mich hat die Stärkung der Bildungsinfra"struktur Priorität. Denn bei den Lohnkosten stehen wir im Vergleich zu anderen Staaten inzwischen viel besser da als immer behauptet wird. Das ist auch ein Grund dafür, dass wir seit langem Exportweltmeister sind. Damit das so bleibt, brauchen wir vor allem eines: qualifizierte Arbeitnehmer. Und die gibt es nur durch bessere Bildung. In Deutschland gibt es eine Renaissance des Sozialismus. Die Programme von SPD, Grünen und Linken gleichen sich in vielen Bereichen an. Doch jetzt gibt es plötzlich eine schwarz-grüne Koalition in Hamburg. Was sagen denn die Grünen außerhalb Hamburgs dazu? Pothmer: Für uns ist entscheidend, wie viel grüne Politik wir durchsetzen können. Die Grünen sind in einer inte"ressanten Situation. Die SPD befindet sich in einer schwierigen Lage, mit schwachen Wahlergebnissen, unentschiedenen Richtungskämpfen und ungeklärten Führungsfragen. Eine Orientierung allein auf die SPD ist von daher nicht vertretbar. Ich finde es richtig, den Versuch mit der CDU zu wagen. Es wird sich zeigen, was mit denen geht und was nicht. Es ist viel Bewegung in die Parteienlandschaft gekommen. Selbst die FDP beginnt darüber nachzudenken, ob es richtig war, sich auf Gedeih und Verderb an die CDU zu ketten, wenn die CDU im Zweifel sagt, die Grünen sind auch ein interessanter Koalitionspartner für uns. Ist der Hamburger Koalitionsvertrag zu schwarz und zu wenig grün oder glauben Sie, dass die GAL-Basis am Sonntag dem Vertrag problemlos zustimmen wird? Pothmer: Problemlos wird da gar nichts gehen. So eine Entscheidung muss gut durchdacht sein und die Argumente für ein Zusammengehen müssen stimmen. Ich glaube, die Hamburger Grünen haben es sich wirklich nicht leicht gemacht und sind weit davon entfernt, sich einfach nur in ein schnelles Abenteuer zu stürzen. Die CDU musste sich in der Schulpolitik bewegen, es gibt Chancen, das Kohlekraftwerk in Moorburg zu verhindern, die Studiengebühren wurden entschärft und andere soziale und ökologische Fortschritte sind vertraglich vereinbart. Ich glaube, es gibt berechtigte Aussichten, dass die GAL-Basis dieses Verhandlungsergebnis anerkennt. Mich würde das freuen. Das Interview führte Werner Kolbe
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