Landeszeitung Lüneburg: ,,Es ist zu früh, die FDP abzuschreiben": Interview mit dem Parteienforscher Prof. Dr. Uwe Jun
Lüneburg (ots)
Piraten auf Enter-Kurs, Liberale auf einer "Mission impossible"; eine Mehrheit links der Mitte, die zum Tabu erkÌärt wurde. Volksparteien, die die Sicherheit der großen Koalition Experimenten vorziehen: Die Wahl an der Saar weist weit mehr Aspekte auf als nur landespolitische. Parteienforscher Prof. Jun von der Uni Trier glaubt, dass die FDP sogar einen Sturz aus dem Bundestag überleben könnte. "Der politische Liberalismus hat einen Platz im Parteiengefüge."
Im Saarland wurden SPD und CDU von 90 Prozent vor zwanzig Jahren auf knapp zwei Drittel gestutzt. Führt eine zunehmende soziale Zerklüftung zu einer Zerklüftung des Parteiensystems?
Prof. Dr. Uwe Jun: Zumindest können wir seit nunmehr drei Jahrzehnten konstatieren, dass es den beiden großen Parteien immer weniger gelingt, unterschiedliche Sozialmilieus und Lebensstile zu integrieren. Die Gesellschaft differenziert sich in immer mehr Lebensstil-Gruppen mit eindeutigen Tendenzen der Individualisierung aus. Ein Trend, der bei den Jüngeren noch stärker ist als bei den Älteren. In der Vergangenheit konnten die Großparteien diese verschiedenen Milieus zumindest teilweise in einem Gefüge vereinen. Das schaffen sie immer weniger. Allerdings sind auch den Fragmentierungstendenzen Grenzen gesetzt. Ihren vorläufigen Tiefpunkt haben die Großparteien vermutlich 2009 durchschritten. Wenn man die Daten von Umfragen und der Wahlen, etwa im Saarland, vergleicht, erkennt man, dass SPD und CDU im Vergleich zu vor drei Jahren dazugewonnen haben. Dennoch wird der Trend weiter in die Richtung gehen, dass sich die soziale Fragmentierung in der Parteienlandschaft abbildet.
Macht die Erosion klassischer Wählermilieus und der Aufstieg kleiner Parteien die Regierungsbildung schwieriger, so dass als Ausweg nur die große Koalition bleibt?
Prof. Jun: Ja, aber selbst im Saarland wäre rechnerisch eine andere Zwei-Parteien-Koalition möglich gewesen. Aber diese wird von der SPD zurzeit politisch offensichtlich nicht gewollt. Das Ende der Zwei-Parteien-Koalitionen außerhalb großer Koalitionen erkenne ich nicht. Der Wähler ist unberechenbarer geworden, er handelt situativer, sodass auch klassische Zwei-Parteien-Bündnisse möglich sind. Das kann schon am 13. Mai mit Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen eintreten. Koalitionen mit mehr als zwei Parteien sind tendenziell schwieriger, weil immer mehr Akteure mitmischen, weil immer mehr Interessen und Meinungen zu politischen Problemlösungen zusammengebracht werden müssen. Diese Koalitionen kommen schwerer zustande und sind instabiler. So konnten wir feststellen, dass bisher alle Koalitionen, in denen die Grünen in einer lagerübergreifenden Konstellation eingebunden waren -- also zusammen mit der CDU oder der FDP -- vorzeitig zerbrochen sind.
Ampeln und Jamaika sind noch keine verheißungsvollen Alternativen. Haben die politischen ebenso wie ökonomische Eliten den Sinn für den Kompromiss verloren?
Prof. Jun: Das wäre überinterpretiert. Der Sinn für den Kompromiss ist nicht verloren gegangen, aber der Kompromiss ist schwieriger aushandelbar, weil die Interessen und Meinungen heterogener geworden und somit schwieriger auf einen Nenner zu bringen sind. Nach Berlin waren Sie noch skeptisch, dass die Piraten mehr sind als eine Eintagsfliege. Sind sie nach dem Saarland mehr als eine Zweitagsfliege? Prof. Jun: Für die Piraten bin ich optimistisch, was die Aussichten bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen betrifft. Was ich unterschätzt habe, ist, dass die mediale Aufmerksamkeit auch außerhalb des Web 2.0 so stark greift. Dieser Partei, die unverbrauchte Andersartigkeit repräsentiert, gelang es in den vergangenen Wochen, sowohl junge Wählerschichten anzusprechen als auch Gruppen, die sich im bisherigen Parteienspektrum nicht repräsentiert fühlten, aber zugleich ihre Stimme auch nicht an Splitterparteien verschenken wollten. Aufgrund der medialen Präsenz der Piraten bedurfte es auch keines genuinen Milieus, wie es etwa im ländlich geprägten Saarland fehlt.
Kann die Attitüde unverbrauchter Andersartigkeit über eine ganze Legislaturperiode Inhalt ersetzen?
Prof. Jun: Das wird schwer für die Piraten, weil sich irgendwann der Effekt des Neuen verliert. Ab dann wird man daran gemessen, was man an politischen Kompetenzen und Aktivitäten aufzuweisen hat. In ihrer Findungsphase sehen die Wähler den Piraten noch nach, dass es ihnen an Problemlösungskompetenz fehlt. Doch diese Nachsicht ist nicht von Dauer.
FDP-Generalsekretär Döring nennt es "Tyrannei der Masse", verweist das Piratenprofil eher auf "Demokratie 2.0"?
Prof. Jun: Die Piraten wollen eindeutig mehr Partizipation, sehen das Web dazu als Werkzeug an. Ein Schwachpunkt des Piratenkonzeptes ist, dass sich nur derjenige stärker beteiligen kann, der über entsprechendes technisches Know-how und entsprechende Ausstattung verfügt. Hier ist ein Generationenkonflikt erkennbar: Ältere, weniger technikaffine Bürger müssen auf mehr Teilhabe verzichten. Zugleich soll das Internet nach den Vorstellungen der Piraten für mehr Transparenz bei Politikentscheidungen sorgen. Ich habe Zweifel, ob das wirklich sachdienlich wäre, aber zumindest ist es ein anderer Politikstil, der offenbar für viele attraktiv ist.
Stärkung der Bürgerrechte, mehr Demokratie und Transparenz sind Forderungen, die auch Liberale unterschreiben könnten. Werden sie auch inhaltlich von den Piraten geentert?
Prof. Jun: Nein, nur zum Teil. Zwar hat die FDP auch mal in Aussicht gestellt, einen anderen Politikstil in Richtung von mehr Transparenz zu pflegen, wobei die Vorbereitung auf die digitale Demokratie bei der FDP keine nennenswerte Rolle spielte. Zudem hat es die FDP versäumt, ihren Status als Bürgerrechtspartei kenntlich zu machen, weil sie sich selbst auf den Wirtschaftsliberalismus verengte. Damit hat die FDP auch Hoffnungen enttäuscht.
Wie kann mehr digitale Demokratie praktiziert werden, ohne dass ein Stuttgart-21-Effekt entsteht, dass eine engagierte Minderheit zur gefühlten Mehrheit wird?
Prof. Jun: Das kann nur funktionieren, wenn man ad-hoc-Veranstaltungen keine so große Beachtung schenkt, sondern indem man web-basiert Partizipationsmöglichkeiten schafft, die auch breiteren Bevölkerungsschichten offenstehen. Dies ist in Stuttgart zunächst unterblieben, wo sich zu Beginn vor allem die Betroffenen zu Wort gemeldet hatten. Was die Piraten "liquid democracy" nennen, geht allerdings darüber hinaus, fordert nämlich institutionalisierte Strukturen, in denen weite Teile der Bevölkerung zu bestimmten Zeiten ihre Meinung kundtun können.
Graben die Piraten mit diesem Ansatz den Grünen den Nachwuchs ab?
Prof. Jun: Das ist für die Grünen ein zentrales Problem. Bis vor einigen Jahren wurden die Grünen noch stark von Erst- und Jungwählern bevorzugt. Mittlerweile verfestigt sich aber ein Trend der letzten Jahre: Die Grünen werden grauer. Mittlerweile sind die Grünen eher ein Projekt älterer Wähler. Die Eltern vieler Piraten-Wähler stehen den Grünen nahe. Sollten sich die Piraten im Parteiensystem etablieren, räubern sie direkt im genuinen Nachwuchsbereich der Grünen.
Richtig grau waren die Gesichter der jungen FDP-Garde nach der Saarlandwahl. Wird die FDP überflüssig?
Prof. Jun: Die FDP muss zumindest aufpassen, dass sie ihre Position bewahrt. Aber ich denke, dass der politische und der Wirtschaftsliberalismus -- für den die FDP in den vergangenen Jahren vor allem stand -- noch einen Platz im Parteien"gefüge hat. Nur darf sich die FDP nicht weiter thematisch verengen, wie sie es tat, als sie den Wirtschaftsliberalismus noch mal auf das Thema Steuersenkung reduzierte. Dies war besonders fatal, weil zugleich eine klare wirtschaftspolitische Position der FDP etwa in der Euro-Krise vermisst wurde. Die FDP hat durchaus eine Chance, wenn sie ihren wirtschaftsliberalen Schwerpunkt durch andere Programmpunkte ergänzt. Selbst, wenn die FDP nach 2013 nicht mehr im Bundestag vertreten sein sollte, ist sie noch nicht abzuschreiben.
Wäre es fatal für eine Parteiendemokratie, wenn der organisierte Liberalismus auf Dauer zertrümmert wird?
Prof. Jun: Es wäre bedauerlich, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Denn: Die Gesellschaft sucht sich ihre Parteien. Würde eine andere Formation liberale Ideen vertreten, könnte sie bei Wahlen erfolgreich sein. Noch hat die FDP die Chance, weil sie als quasi "eingeführte Marke" bei den Wählern präsent ist. Sie muss aber diese "eingeführte Marke" einer Veränderung unterziehen.
Das Interview führte Joachim Zießler
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de
Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell