Alle Storys
Folgen
Keine Story von Landeszeitung Lüneburg mehr verpassen.

Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg: Legitimation durch die UNO nötig
Jürgen Trittin: Optionen im Syrien-Konflikt erst nach erfolgreicher Aufklärungsmission umsetzen

Lüneburg (ots)

Die jüngste Meinungsumfrage sah die Grünen auf einem Zweijahrestief. Doch Jürgen Trittin (59) hält Kurs. "Ein Veggie-Tag ist doch was Feines", sagt der Grünen-Fraktionschef. Steuererhöhungen? "Unsere Wähler stimmen nicht mit dem Portemonnaie ab, werden außerdem meist entlastet." Syrien-Krise? Eine Intervention würde den Bürgerkrieg ausweiten. "Die Entscheidung muss die UNO treffen."

In Paris und Washington erklingen Kriegstrommeln. Läuft der Westen Gefahr, sich nach Afghanistan und Irak in das nächste militärische Abenteuer mit geringen Erfolgsaussichten zu stürzen?

Jürgen Trittin: Es sind erschütternde Bilder, die uns aus Syrien erreichen. Sollte sich tatsächlich bestätigen, dass Giftgas eingesetzt wurde, wäre das ein entsetzliches Verbrechen, das von der internationalen Gemeinschaft nicht toleriert werden kann. Entscheidend ist, dass die UN-Inspekteure nun Klarheit schaffen. Daher steht Angela Kane, die UN-Bevollmächtigte, vor einer sehr verantwortungsvollen Aufgabe. Sämtliche Optionen können nur auf der Basis gesicherter Informationen umgesetzt werden. Mögliche Konsequenzen bedürfen in jedem Fall einer Legitimation durch die Vereinten Nationen.

Es erscheint schwer vorstellbar, dass Assad so dumm ist, einen Chemieangriff zu befehlen, während UN-Inspektoren im Land sind. Besteht die Möglichkeit, dass der Westen sich zur Luftwaffe der Rebellen umfunktionieren lässt?

Trittin: Man kann jetzt viel spekulieren, das hilft aber nicht weiter. Umso wichtiger ist, dass die UN-Aufklärungsmission unter Angela Kane, die ich sehr schätze, ein Erfolg wird.

Oskar Lafontaine sagte 1990 ehrlich im Wahlkampf, dass die deutsche Einheit jeden Bürger etwas kosten würde - und wurde abgestraft. Wieso spielen Sie va banque mit der Ankündigung von Steuererhöhungen?

Trittin: Wir spielen nicht va banque. Wir wollen für 90 Prozent der Steuerzahler die Steuern senken. Die Bürger haben in den vergangenen vier Jahren unter Schwarz-Gelb gelernt, Versprechungen zu misstrauen, die nicht finanziell gedeckt sind. Also wollen wir eine Entlastung für die große Mehrheit der Menschen über eine Anhebung des Steuerfreibetrages, die natürlich gegenfinanziert werden muss. Also müssen sieben bis zehn Prozent der Steuerpflichtigen einen leicht erhöhten Steuersatz zahlen. Da gehen wir maßvoll vor.

Der Bund der Steuerzahler sieht in Familien mit 80000 Euro brutto Mittelschicht und keine Spitzenverdiener. Rücken die Grünen nach links?

Trittin: Der Bund der Steuerzahler hat in seinen eigenen Berechnungen festgestellt, dass unsere Aussage zutrifft, wonach 90 Prozent der Bürger entlastet werden. Also kann man mit 80.000 Euro zu versteuerndem Einkommen, bei Ehepaaren sind das 160.000, schwerlich zur Mittelschicht zählen.

Zur Kasse bitten die Grünen die Gutverdienenden auch bei der Bürgerversicherung. Haben Sie keine Sorge, dass gerade ihre Klientel sie abstraft?

Trittin: Erstens wollen wir die Krankenkassenbeiträge um 1,5 Prozent senken, das heißt, alle werden weniger bezahlen. Im Gegenzug wird dann die Beitragsbemessungsgrenze, also die Einkommensgrenze bis zu der Mitglieder Beitrag zahlen müssen, von jetzt 3937 Euro auf 5500 Euro im Monat angehoben. Entlastend bleibt es bei der Abschaffung der Praxisgebühr, Zuzahlungen auf Arzneien werden gestrichen. So wird auch bei Bürgerversicherung die übergroße Mehrheit entlastet. Und zur Frage nach unserer Wählerschaft: Nach einer jüngsten Studie der FAZ hat der durchschnittliche Grünen-Wähler ein Netto-Einkommen von 2400 Euro. Das wären rund 50.000 brutto im Jahr. Demnach wird der durchschnittliche Grünen-Wähler durch unsere Steuerpläne entlastet. Zudem stimmen unsere Wähler nicht mit dem Portemonnaie ab. Von wirklich Besserverdienenden höre ich oft Zustimmung zu unseren Plänen, weil sie sagen, von besserer Kinderbetreuung und Bildung profitiere ich auch. Die meisten Menschen empfinden unser Konzept als solidarisch, aber auch solide. Demgegenüber hat die Bundeskanzlerin in ihrer achtjährigen Regierungszeit die gesamtstaatliche Verschuldung um 500 Milliarden Euro nach oben getrieben, also immerhin um mehr als ein Fünftel sämtlicher Schulden, die wir in der Geschichte der Bundesrepublik aufgehäuft haben. Dass es so nicht weitergehen kann, gerade mit Blick auf die eigenen Kinder, weiß doch jeder. Die Zeit der Zusagen auf Pump ist vorbei.

Derzeit erntet Deutschland die Erfolge, die Rot-Grün mit der Agenda 2010 gesät hat. Wieso schämen sich die Grünen dieser Reform?

Trittin: Tun wir doch nicht. Die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer neuen Form der Grundsicherung ist nach wie vor prinzipiell richtig. Es gibt jetzt einen Anspruch auf Arbeitsförderung für alle. Diese Erfolge brauchen wir nicht verstecken - unbeschadet eines Korrekturbedarfes bei anderen, problematischen Punkten. So gibt es einen Trend hin zu prekären Arbeitsverhältnissen, weil der alte Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" bei der Zeitarbeit nicht mehr gilt. Weil wir Grünen das damals bereits befürchteten, hatten wir schon 2004 einen gesetzlichen Mindestlohn gefordert. Der ausgeuferte Niedriglohnbereich, der nicht die Basis der verbesserten Wettbewerbssituation Deutschlands ist, muss zurückgestutzt werden. Acht Millionen Menschen mit Minilöhnen sind prozentual mehr als in den USA. Wir brauchen also einen gesetzlichen Mindestlohn und wir müssen Zeit- und Leiharbeiter gleich stellen, sowie die Auslagerung in Werkverträge erschweren.

Gerechtigkeit ist nicht nur ein nationales Thema. Muss Deutschland Wohlstand teilen, um der verlorenen Generation in den südeuropäischen Ländern eine Perspektive zu geben?

Trittin: Das liegt in Deutschlands ureigenstem Interesse. Die Krise in den südeuropäischen Ländern rückt immer näher, wie die Probleme der Stahlwerke Peine Salzgitter gerade deutlich machen. Nur, wenn im Süden wieder investiert wird, gibt es dort auch Menschen, die wieder Steuern zahlen. Diese Länder haben schon lange kein Ausgabenproblem mehr, sondern ein Einnahmeproblem. Wir dürfen nicht nur aufs Sparen setzen, sondern müssen uns auch um Investitionen kümmern. Sonst werden sich die Südländer nicht aus der Krise befreien können, vielmehr kommt die Krise dann über Frankreich auch zu uns.

Wie groß ist die Gefahr, dass sich Deutschland auf seinen Erfolgen ausruht und den nächsten Reformsprung raus aus der Kohlenstoffwirtschaft oder auch raus aus der Wachstumsgesellschaft versäumt?

Trittin: Das ist ein Teil des Streites, den wir mit dieser Regierung führen. Das Kabinett Merkel hat eigentlich nur einen Maßstab: das Wachstum des Bruttosozialproduktes. Seit vier Jahrzehnten sinken in den entwickelten Ländern diese Wachstumsraten aber stetig. In Deutschland lässt sich jetzt beobachten, was passiert, wenn man Wachstumsimpulse setzt, ohne sie mit einer Strategie für eine verbesserte Energieeffizienz zu verknüpfen: Zum ersten Mal seit 20 Jahren steigen in Deutschland die Treibhausgasemissionen. Vor allem, weil das Kabinett Merkel den Emissionshandel hat kaputt gehen lassen. Deswegen explodiert die Kohlestromproduktion. Widersinniger geht es nicht mehr: Wir haben so viel Strom aus regenerativen Quellen wie nie zuvor und dennoch wurde nicht ein Braunkohlekraftwerk abgeschaltet. Dieser überflüssige Strom wird etwa in den Niederlanden verramscht, die Differenz müssen die Konsumenten tragen.

Windparks ohne Anbindung ans Netz, steigende Strompreise auch wegen des Solarbooms - muss bei der Energiewende umgesteuert werden?

Trittin: Schwarz-Gelb hat die Energiewende vorsätzlich gegen die Wand gefahren. Im Windpark "Riffgat" vor Borkum müssen die Räder mit Diesel angetrieben werden, damit sie nicht rosten, weil sie nicht ans Netz angeschlossen werden können. Das ist ein persönliches Verdienst von Philipp Rösler. Der hat als Landesminister die Trasse angeordnet und er hat als Bundesminister nicht dafür Sorge getragen, dass diejenigen, die das Netz betreiben, auch zu solchen Investitionen in der Lage sind. Er hat deren Versagen ohne alle Konsequenzen hingenommen, weil ja ohnehin für drei Jahre der Stromkunde für die Kosten aufkommt. Vor Borkum ist der ganze Irrsinn der Energiepolitik von Schwarz-Gelb auf den Punkt gebracht. Gleichwohl besteht die Pflicht, Kosten zu begrenzen. Dies geschieht am besten durch den Abbau von Subventionen, etwa für die Agrarindustrie bei der EEG-Umlage. Umweltminister Altmaier will doch nicht wirklich den Strompreis senken. Er geht nicht an die Subventionen ran oder an die Folgen des Kohlebooms, sondern nur an den kleinsten Fördertopf - den für die Erneuerbaren.

In Washington gilt Deutschland als "Partner dritter Klasse", den Diensten sogar als "legitimes Angriffsziel". Ist die Besatzungszeit doch nicht vorbei?

Trittin: Zumindest verhält sich die Bundesregierung so, als hätte sie es mit einem großen Bruder zu tun. Bundesinnenminister Friedrich hat sich beim US-Vizepräsidenten Biden nicht mal getraut, eine kritische Frage zu den NSA-Abhörmethoden zu stellen. Und Kanzleramtsminister Pofalla verstieg sich zu der Ansicht, wenn die NSA sage, nicht spioniert zu haben, dann hätten sie es auch nicht getan. Warum er anschließend dennoch ein No-spy-Abkommen auf den Weg bringen will, erschließt sich mir dann aber nicht.

Tragen Washington und London den Spaltpilz in das NATO-Bündnis?

Trittin: Würde die Merkel-Regierung mit einem normalen Selbstbewusstsein auftreten, würde man von Washington auch anders behandelt werden. Rot-Grün hatte ja durchaus bei der Klimapolitik und dem Irak-Krieg klare Kante gezeigt, ohne dass dies der deutsch-amerikanischen Freundschaft geschadet hätte.

Muss der Datenschutz gesondert geregelt werden, bevor man eine Freihandelszone auf Kiel legt?

Trittin: Man muss sicherstellen, dass die Datenschutzstandards, die in Europa gelten, auch von den Amerikanern befolgt werden.

Bei der Endlagersuche wurde alles auf Anfang gestellt. Dennoch murren die Atomkraftgegner. Sind Sie es nicht leid, immer Maximalerwartungen gerecht werden zu müssen?

Trittin: Nein, ohne den gesellschaftlichen Druck würde sich in diesen Fragen nichts bewegen. Aber es ist schon ein großartiger Erfolg der Grünen, der noch kleinsten Oppositionspartei im Bundestag, diesen Gesetzentwurf zu einem Allparteienkompromiss geführt zu haben - auch wenn es zehn Jahre gedauert hat.

Das Interview führte Joachim Zießler

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung Lüneburg, übermittelt durch news aktuell

Weitere Storys: Landeszeitung Lüneburg
Weitere Storys: Landeszeitung Lüneburg