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Landeszeitung Lüneburg: Der Mörder überraschte "Ötzi" Kurz bevor er mit einem Pfeil erschossen wurde, aß der Mann aus dem Eis in aller Ruhe ein üppiges, fettiges Mahl

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Der Ötzi ist der bestuntersuchte Mensch der Welt. Trotzdem entdecken Sie immer noch Neues. Offenbar war eine vegane Lebensweise vor 5300 Jahren im Hochgebirge keine Option? Dr. Albert Zink: In der Tat. Die hochalpine Umgebung, in der der Mann aus dem Eis lebte, erfordert für die menschliche Physiologie eine optimale Nährstoffversorgung. Nicht zuletzt auch, um einen schnellen Energieverlust angesichts der langen Strecken, die die Menschen vor 5300 Jahren zurückgelegt haben. So lagen Abbaustellen für Feuerstein südlich und nördlich der Alpen. Zugleich wurden Kupfervorkommen in der Toskana erschlossen. Händler, Bergleute und Jäger legten große Strecken zurück. Ötzis letzte Mahlzeit war mit fettreichem Fleisch vom Steinbock, magerem vom Rothirsch und Einkorn, dem Vorläufer des Weizens, eine ausgewogene Mischung aus Kohlenhydraten, Fett und Einweiß - perfekt abgestimmt auf die Anforderungen im Hochgebirge.

Erlaubt die Analyse des Steinbock- und Rothirschfleisches in Ötzis Magen auch Rückschlüsse auf Zubereitungsarten in der Kupferzeit? Zink: Ja, das Fleisch wurde mit großer Wahrscheinlichkeit getrocknet, um als Proviant mitgenommen zu werden. Wäre das Fleisch über 60 Grad erhitzt worden, hätten wir die Oberflächenstruktur der Fleischfasern nicht mehr so erkennen können, wie es uns gelang. Nicht mehr eindeutig feststellbar ist, ob das Fleisch lediglich an Sonne und Luft getrocknet oder sogar im Rauch geräuchert wurde.

Erstaunlich wirkt der Verzehr des giftigen Adlerfarns. Hat dieser eine medizinische Wirkung? Zink: Tatsächlich helfen Farne gegen Parasiten, von denen Ötzi befallen war. So hatte man in seinem Darm die Eier von Peitschenwürmern gefunden, die auch noch zu späterer Zeit sehr verbreitet waren. Farn hat eine wurmabtötende Eigenschaft, in Mitteleuropa führt eine Art aus dieser Pflanzenfamilie sogar den Namen Wurmfarn. Es liegt also nahe, dass der Mann aus dem Eis den Adlerfarn als Medizin konsumiert hat. Wobei nicht ganz auszuschließen ist, dass er die wasserabweisenden Farnblätter genutzt hat, um darin sein Essen einzuwickeln.

Wobei für eine Verwendung in der Reiseapotheke spricht, dass Ötzi auch Birkenschwamm mit sich führte, der als Zunder zum Feuermachen zu nutzen ist, aber auch antibakteriell wirkt.... Zink: ... Der Ötzi dürfte um die entzündungshemmende Wirkung des Birkenporlings ebenso gewusst haben, wie um die wurmabtötende des Farns. Noch heute benutzen manche Kulturen insbesondere junge Sprossen des Farns als Nahrungsmittel. Werden sie vorher gewässert oder mit Essig behandelt, lässt sich sogar das Gift herauswaschen.

Die Gletschermumie ist auch einer der ältesten, ungeklärten Kriminalfälle. Der geringe Verdauungsgrad seiner letzten Mahlzeit scheint darauf hinzudeuten, dass er sich kurz vor seiner Ermordung sicher fühlte. Zink: Tatsächlich ist Ötzis Magen komplett gefüllt gewesen, das heißt, er hat eine halbe bis ganze Stunde vor seiner Ermordung noch richtig viel gegessen. Das spricht dafür, dass er sich am Tisenjoch in 3210 Meter Höhe sicher gefühlt hat. Wer glaubt, seine Feinde seien ihm dicht auf den Fersen, würde kein großes Mahl zu sich nehmen, sondern nur das Nötigste essen, um etwas Kraft für die weitere Flucht zu bekommen.

Wieso hatte es zehn Jahre gedauert, bis man die Stein-Pfeilspitze in seinem Rücken entdeckt hatte? Zink: (lacht) Das war für die Kollegen in Innsbruck, in deren Institut die Mumie zunächst untersucht worden war, sicher peinlich gewesen. Das Problem am Anfang der Ötzi-Forschung war, dass die entsprechende Erfahrung mit Mumien fehlte. Die ersten Aufnahmen mit dem Computertomographen hatten noch nicht die heutige Auflösung, zudem rechneten die Kollegen zunächst einfach nicht mit einer Mordwaffe in diesem Körper. So kam es, dass erst nach dem Umzug der Mumie nach Bozen zehn Jahre später, dem hiesigen Radiologen die Pfeilspitze auffiel.

Die Mumie wird in Ihrem Institut bei konstant - 6 Grad und rund 98 Prozent Luftfeuchtigkeit verwahrt. Gehen die Forscher zu ihren Untersuchungen in die Kammer? Zink: Grundsätzlich wird Ötzi nicht aus der Kühlkammer im Archäologiemuseum herausgeholt. Da es sehr aufwändig ist, Gewebeproben zu entnehmen - im aktuellen Fall musste etwa der gesamte Magen aufgetaut werden -, werden bei solchen seltenen Gelegenheiten gleich eine Vielzahl von Proben entnommen, die dann nach und nach erforscht werden.

Obwohl fit fürs Hochgebirge, litt Ötzi unter vielen Krankheiten. Welche haben Sie entdeckt? Und zeugen diese von der Härte des Lebens damals oder eher von seinem individuellen Krankheitsgeschehen? Zink: Einiges wurzelt in den damaligen Lebensbedingungen. So litt er unter vielfältigen Abnutzungserscheinungen - in den Knien, den Hüftgelenken, an den Fußgelenken sowie in der Hals- und der Lendenwirbelsäule. Dies alles ist typisch für einen Menschen, der viele Märsche in den Bergen unternommen und dabei schwere Lasten getragen hat. Zudem hatte er den Magenkeim Helicobacter pylori, den heute jeder zweite Mensch in sich trägt - und der offenbar schon damals weit verbreitet war. Ötzis Veranlagung für Herz-Kreislauferkrankungen ist dagegen in seiner Persönlichkeit verankert. Er hatte genetisch bedingt ein erhöhtes Risiko für Gefäßverkalkung. Tatsächlich hatte der etwa 40-50Jährige bereits verkalkte Herzarterien. Wäre er zehn bis zwanzig Jahre älter geworden, wäre das Risiko eines Herzinfarktes hoch gewesen.

Ist die früh geäußerte These noch haltbar, dass seine Tätowierungen auf schamanische Heilriten zurückgehen könnten, weil sie direkt über Regionen lagen, die ihm Beschwerden bereitet haben müssen? Zink: Für eine Behandlung spricht immer noch sehr viel. Er hat an den Beinen und am unteren Rücken sehr viele Tätowierungen. Möglicherweise hat es sich sogar um eine Art von Akupunktur gehandelt, denn die Tätowierungen befinden sich in der Nähe von Akupunkturpunkten, die für die Behandlung von Schmerzen und Magen-Darm-Problemen benutzt werden. Eine dekorative Bedeutung ist eher unwahrscheinlich, weil ihm keine Figuren oder Symbole eintätowiert worden waren, sondern einfache parallele Striche sowie zwei Kreuze. Zudem lagen die Tätowierungen an eher unsichtbaren, von Kleidung bedeckten Stellen.

Zeigt Ötzis Lactose-Intoleranz, dass sich die Hirten-Mutation, die den Konsum von Milch ermöglichte, noch nicht so weit verbreiten konnte? Zink: Ja, das durfte man aber auch erwarten. Zu einem evolutionären Vorteil wurde die Toleranz gegenüber Milchzucker erst mit der neolithischen Revolution, der Sesshaftwerdung von Menschen und dem Halten von Milchvieh. Gleichwohl hat es sehr lange gedauert, bis ein Großteil der Bevölkerung auch im Erwachsenenalter noch Milch konsumieren konnte.

Widerlegt der Ötzi alle, die glauben, Zuwanderung wäre ein modernes Phänomen? Zink: Richtig, seine direkten Vorfahren stammen aus dem Nahen Osten. Diese Gruppe gehörte zu den Einwanderungswellen, die sich nach der Sesshaftwerdung des Menschen und der Aneignung von Ackerbau und Viehzucht in Richtung Europa aufgemacht haben. Sein Erbgut weist ihn als einen der typischen Vertreter der frühen Ackerbauern aus. Die Signatur seiner DNA deutet aber darauf hin, dass seine Vorfahren vor mindestens 6000 Jahren Mitteleuropa erreicht haben.

In der Ausrüstung des Ötzi wurden Dutzende Holz- und mehrere Lederarten für den jeweils idealen Verwendungszweck verarbeitet. Das Vorurteil, die Kupferzeit wäre primitiv gewesen, ist wohl widerlegt? Zink: Vollständig. Lange vorherrschende Vorstellungen, dass das Leben in der Kupferzeit - der ersten von einem Metall geprägten Ära nach der Steinzeit - noch sehr einfach gewesen ist, sind nicht mehr zu halten. Vor dem Ötzi hat man allerdings auch kaum erhaltene Kleidungsreste aus dieser Zeit. Heute weiß man, dass der Ötzi einen Pfeilköcher aus Rehleder hatte, der Lendenschurz war aus Schafleder, die Schnürriemen der Schuhe waren aus Rindsleder, die Leggings waren aus Ziegenleder, der Mantel aus Ziegen- und Schaffell und für die Mütze musste ein Braunbär herhalten. Der Mantel mag aus Tarnungs- oder sogar aus ästhetischen Erwägungen heraus aus verschiedenfarbigen Fellstreifen zusammengenäht worden sein. Das zeugt von einem hohen spezialisierten Wissen, welche Tierhäute sich für welche Funktion eignen.

Und auch davon, wie viel Wissen verlorengegangen ist. Zink: Genau. Denkt man etwa an Ötzis Kenntnisse von der Heilkraft mancher Pflanzen. Auch seine auf Akupunkturpunkten liegenden Tätowierungen, die übrigens die ältesten der Welt sind, deuten in diese Richtung. Das ist sehr faszinierend.

Zur Person

Der Anthropologie Dr. Albert Zink leitet seit 2007 das Institut für Mumien und den Iceman im Forschungsinstitut Europäische Akademie (Eurac) in Bozen (Italien). Die Einrichtung war damals das erste Mumien-Institut der Welt. Inzwischen hat Dr. Zink Mumien in aller Welt erforscht, doch sein Hauptarbeitsgebiet bleibt der 5300 Jahre alte Ötzi, der in einer speziellen Kältekammer des Südtiroler Archäologiemuseums in Bozen liegt.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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