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Landeszeitung Lüneburg: "Niemals durch die Hand eines Arztes sterben" Dr. Martina Wenker, Vize-Präsidentin der Bundesärztekammer, sieht Benelux-Staaten mit Euthanasie-Kurs auf einer schiefen Ebene

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Egal, ob man auf das deutsche Gesundheitssystem blickt oder nach Großbritannien oder Italien: Der Stein des Weisen, ein bezahlbares, effizientes und zukunftssicheres Modell ist nicht zu sehen. Warum ist das so schwer? Dr. Martina Wenker: Die vielfältigen, ganz unterschiedlichen Probleme in den Gesundheitssystemen der Länder zeigen, dass es keine Blaupause gibt. Auch nicht geben kann, denn die Wünsche der Bürger an die medizinische Versorgung sind völlig unterschiedlich. Wir haben in Deutschland traditionell ein dreigegliedertes Gesundheitswesen. Primär ist der Hausarzt der Ansprechpartner, der sich als Familienarzt auch um die alltäglichen Krankheiten kümmert. Die nächste Versorgungsebene ist dann der Facharzt, der für speziellere Probleme weitergebildet ist. Erst in der dritten Versorgungsebene kommt das Krankenhaus. Dieses System ist ein gewachsenes. Es ist den Bürgern nicht nur vertraut, sondern auch leistungsfähig.

Kippt Dr. Google dieses System, weil Patienten mit angelesenem Halbwissen sofort zum Facharzt drängen? Dr. Google ändert die Versorgungslandschaft insgesamt, weil insbesondere jüngere Patienten sich wie selbstverständlich im Internet Diagnosen und bei Versandapotheken auch Medikamente holen. Wir werden uns auf Veränderungen bei den Wünschen der Patienten einzustellen haben. Allerdings bleiben die Krankheiten gleich. Und ich bin überzeugt davon, dass derjenige, der wirklich Hilfe braucht, weiter zum Arzt seines Vertrauens gehen wird. Und das sollte zunächst der selbst gewählte Hausarzt sein. Ich halte nichts von Ideen, den ersten Ansprechpartner zuzuweisen.

Eineinhalb Jahre hat eine Wissenschaftler-Kommission noch Zeit, eine einheitliche Gebührenordnung für Ärzte zu entwerfen. Zu wenig Zeit, um eine klassenlose Medizin zu schaffen? Tatsächlich verrinnt die Zeit, wenn man bedenkt, dass sich die Kommission gerade erst gebildet hat. Zudem sollen sie zwei Dinge verbinden, die nicht zu verbinden sind: Sie haben in der gesetzlichen Krankenversicherung das Sachleistungsprinzip, bei dem der Patient im Vertragsverhältnis mit der Krankenkasse steht, und in der privaten Krankenversicherung die Kostenerstattung. Während in der gesetzlichen ein Gesamtbudget für alle Leistungen zur Verfügung steht, wird in der privaten die einzelne ärztliche Leistung vergütet. Beide Systeme sind so weit auseinander, dass es nicht gelingen kann, daraus in eineinhalb Jahren ein einheitliches zu machen. Und es ist die Frage, ob dies überhaupt sinnvoll wäre. Das System ist eines der besten weltweit. Ausklammern würde ich hier lediglich das Problem unterschiedlicher Wartezeiten. Dennoch gilt: Beide Systeme können voneinander lernen, aber sie müssen nicht vermengt werden. Nicht umsonst ist die häufigste Zusatzversicherung die Reisekrankenversicherung.

Seit einiger Zeit schmieden Bundesärztekammer und private Krankenversicherungen an einem Konsens für eine neue Gebührenordnung. Hat die Bundesregierung diese Vorarbeit nun vom Tisch gewischt? Diese Vorarbeit ist über Jahre erstmalig in Zusammenarbeit mit dem Verband der privaten Krankenversicherer entstanden. Wir sind davon überzeugt, dass wir damit ein hochmodernes Modell haben, in dem alle ärztlichen Leistungen sachgerecht abgebildet werden. Dies kann eine gute Grundlage für eine neue Gebührenordnung sein. Ich würde mich wundern, sollte man im Ministerium nicht auf diesem stabilen Fundament aufbauen wollen.

Würde eine einheitliche Gebührenordnung nicht zwangsläufig zu einem florierenden Zusatzversicherungsangebot führen, das das Ideal der klassenlosen Medizin immer torpediert? Das werden Sie in der Tat in einem wettbewerblichen System nie verhindern können. Wer es sich leisten kann, wird immer Zusatzleistungen ordern.

Nordrhein-Westfalen hat als erstes Bundesland die Landarztquote auf den Weg gebracht, Bayern und die niedersächsische SPD möchte nachziehen. Fortan soll eine gewisse Quote von Medizinstudienplätzen den Bewerbern vorbehalten bleiben, die sich für den Dienst auf dem platten Land verpflichten. Eine sinnvolle Lösung? Die Ärztekammer Niedersachsen sagt ganz klar: Nein. Damit stehen wir auf der Seite des Wissenschaftsministers, der betont, es wäre weltfremd, einen 18-jährigen Studienanfänger dazu zu vergattern, für zwölf Jahre in einem unterversorgten Gebiet tätig sein zu müssen. Ohnehin ist nicht klar definiert, wer eigentlich Landarzt ist. Gilt diese Bezeichnung auch für denjenigen, der im ländlichen Raum im Krankenhaus arbeitet? Zudem weiß ich doch zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, wo in zwölf Jahren eine unterversorgte Region besteht, bin aber gebunden - ungeachtet meiner persönlichen Situation. Eine derartige Regelung kann höchstens ein Baustein werden, wenn wir irgendwann wieder genug Medizinstudienplätze haben. In einer Mangelsituation macht eine Quotierung keinen Sinn, weil dadurch nur der Mangel von einem Bereich in den anderen verschoben wird. Sinnvoller wäre es, den Beruf des Hausarztes auf dem Land attraktiver zu gestalten. Etwa durch eine strukturierte Weiterbildung, die nach fünf Jahren auch wirklich beendet ist. Oder durch die Schaffung von Teilzeitarbeitsmöglichkeiten für junge Ärztinnen und Ärzte mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen. Auch der Bereitschaftsdienst in der Fläche kann optimiert werden.

Wäre eine Buschzulage wirksamer als eine Quote? Sollte die Kassenärztliche Vereinigung zu dem Schluss kommen, dass diese Selbstverpflichtung eines Arztes besonders viel wert ist, und deshalb ein Stück drauflegt - herzlich gerne.

Häuft sich die Gewalt gegen Ärzte? Eindeutig ja. Schon am Tresen bei der Aufnahme herrscht im Vergleich zu den Vorjahren ein erheblich rauerer Ton. So fordern immer häufiger Patienten sehr massiv ein, nun aber mit dem Aufruf zum Arzt dran zu sein - ungeachtet der Tatsache, dass es natürlich der Arzt entscheidet, wessen Fall am dringlichsten ist. Und das ist nicht der Patient, der am lautesten schreit, sondern der, der am krankesten ist. Es gibt mittlerweile sehr viele Kollegen, die Angst haben, im Bereitschaftsdienst hinauszufahren. Wir hatten jüngst ein Deeskalationstraining angeboten. Der Trainer sagte: "Wenn Sie in einen Raum kommen, um einem Patienten zu helfen, sollten Sie als Erstes gucken, wo Ihr Fluchtweg ist!" Wo kommen wir denn da hin? Unser Beruf ist darauf angelegt, sich sofort auf den hilfsbedürftigen Kranken zu konzentrieren - und nicht auf den Eigenschutz. Mittlerweile haben wir in großen Kliniken schon Sicherheitskräfte im Wartebereich stehen, um Krawalle zu unterbinden. Neue Kliniken werden so gebaut, dass die Behandlungszimmer eine Fluchtmöglichkeit bieten. Diese zunehmende Gewaltbereitschaft spüren aber nicht nur Ärzte, sondern auch medizinische Fachangestellte, Pflegekräfte und Rettungssanitäter. Die Art und Weise, wie Bürger Helfenden gegenübertreten, wandelt sich massiv. Irgendwann führt dies dazu, dass die Helfenden sagen: "Dann lassen wir's!"

In Belgien gehört der Giftbecher zum Arztkoffer, sogar bei Kindern ist Sterbehilfe erlaubt. Wären Sie froh über ein entsprechendes deutsches Sterbehilfegesetz, weil dieses Sie aus einer rechtlichen Grauzone holen würde? Es gibt keine rechtliche Grauzone. Wir haben vielmehr ganz klare Gesetze. So haben wir vor zwei Jahren zunächst das Palliativ- und Hospizgesetz bekommen und anschließend das Gesetz zum Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe. In ihrer Kombination sind diese Gesetze unfassbar gut. Ich arbeite seit 30 Jahren in der Onkologie, habe viele unheilbar Kranke gesehen. Ich sehe mit Entsetzen, dass ein Land Minderjährigen, psychisch Kranken und Demenzkranken bei Lebensüberdruss Gift als Option anbietet. In diesen Fällen wird de facto von anderen entschieden, wer lebenswert ist und wer nicht. Mit einer solchen Regelung kämen wir auf eine schiefe Ebene. Unsere Aufgabe ist es, zu heilen oder wo das nicht möglich ist, zu lindern und beizustehen. Ich hoffe, dass die Praxis aus den Benelux-Staaten niemals zu uns hinüberschwappt. Ich kenne Niederländer, die haben eine sogenannte Lebenskarte im Portemonnaie. "Mach mich nicht tot, Doktor", steht da drauf.

Sind wir in Deutschland wegen unserer historischen Last noch immunisiert? Ja, und das ist auch gut so. Wir haben für jede auch noch so schwierige Situation am Lebensende erleichternde Option, bis hin zu hoch dosierten Morphiumgaben. Wir können helfen. Wir müssen nicht töten. Und Ärzte dürfen dies niemals tun. Jeder Patient muss zu jedem Zeitpunkt sicher sein, dass der Arzt, der mit einer Spritze in der Hand an sein Krankenbett tritt, ihm helfen und nicht ihn töten will.

Sind Kriterien wie "unerträgliches Leid" oder "Würde" nicht ohnehin zu schwammig für ein Gesetz, zudem missbrauchbar? In der Tat. Wir regeln in Gesetzen den Regel- und nicht den Ausnahmefall. Leid und Würde werden in allen Kulturen und zu allen Zeiten anders definiert. Und selbstverständlich bieten Ärzte Hilfe im Sterben an. Bis hin zu einer konsequenten Sedierung, damit der Patient die Schmerzen nicht spürt. Die Intention ist aber immer, die schwere letzte Zeit aushaltbar zu machen, und nicht, Tötung auf Verlangen anzubieten. Niemals durch die Hand eines Arztes sterben, immer an der Hand.

In Belgien wurde nun ein Demenzkranker, der nicht gelitten hat, auf Wunsch seiner Angehörigen getötet... Allein die Möglichkeit, euthanasieren zu können, würde einen ungeheuren Druck auf Alte, Kranke und Schwache entfesseln, doch bitte schön den Angehörigen nicht zur Last zu fallen. Medizin-Ethik zum Lebensende wird immer wieder diskutiert werden, weil jede Generation einen anderen Blickwinkel hat. Doch ich werde mich immer dagegen sperren, die Option der Tötung auf Verlangen zu schaffen.

Zur Person

Dr. Martina Wenker ist Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen und Vizepräsidentin der Bundesärztekammer. Sie studierte in ihrer Heimatstadt Göttingen, ist Fachärztin für Innere Medizin, arbeitete lange im Bereich Lungen- und Bronchialheilkunde.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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