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Landeszeitung Lüneburg: "Klare Kante und einfach mal arbeiten" - Interview mit dem Politologen Dr.Gero Neugebauer

Lüneburg (ots)

Sigmar Gabriel warnt seine SPD davor, aus der Großen Koalition auszusteigen, und damit "eine neue Regierungskrise auszulösen". Dies mache Deutschland bestimmt nicht stabiler. Hat er recht?

Dr. Gero Neugebauer: Ja, eindeutig. Wenn ein Landesverband der SPD, der ohnehin schon seit Jahren schwache Leistungen bietet, noch schlechter abschneidet, ist das kein Grund, darüber nachzudenken, die Große Koalition aufzugeben - vor allem dann nicht, wenn die Gründe, die dafür gesucht werden, eher in der SPD zu finden sind. Gabriel sagt auch, dass der Ausgang der Bayernwahl eine Quittung sei für den Regierungsstil in Berlin. Der "Irrsinn" mit dem Streit zwischen Merkel und Seehofer habe alles überdeckt. Wer so miteinander umgehe, müsse sich nicht wundern, wenn die Wähler in Scharen davonlaufen würden. Warum laufen sie auch der SPD davon? Die SPD ist Teil der Regierung. Diese Regierung wird durch Frau Merkel repräsentiert. Die SPD konnte den Streit innerhalb der Koalition zwischen Frau Merkel und Herrn Seehofer nicht schlichten. Wenn sie es versucht hat - zum Beispiel beim sogenannten Masterplan Seehofers - hat sie allenfalls einen Trostpreis geerntet wie das Vorziehen der Diskussion über das Einwanderungsgesetz von 2019 auf 2018 oder die Umbenennung der Transitzentren. Was ist das für Erfolg? Ein anderes Beispiel ist ein Konflikt, der im Wesentlichen dadurch hervorgerufen wurde, dass ein dem Innenministerium unterstehender Beamter seine Neutralitätspflicht als Beamter und seine Loyalitätspflicht gegenüber der Kanzlerin verletzte. Die SPD erweckte auch mit der Forderung nach dem Rücktritt Maaßens eher den Eindruck, Teil des Streits zu sein. Sie hat es versäumt, sich klarer abzusetzen und zu verdeutlichen: Wenn die anderen nicht endlich aufhören zu streiten und anfangen zu arbeiten, werden wir uns überlegen, aus der Koalition auszusteigen.

Die SPD hat schon nach der schweren Schlappe bei der Bundestagswahl eine Erneuerung angekündigt. Erkennen Sie richtige Ansätze?

Neugebauer: Die Ansätze sind zum Beispiel in der Organisation zu erkennen. Wichtiger ist, dass es einen sogenannten Debattenprozess gibt: Die Parteimitglieder sind aufgefordert, über vier Themen zu diskutieren. Das ist ein Ansatz, die Mitglieder stärker in die Diskussion über die Ziele und die programmatische Parteiarbeit einzubinden. Es ist auch kein Fehler, zum Beispiel in der Rentenpolitik Perspektiven für 2040 zu entwickeln. Damit macht man deutlich, dass man sich nicht nur auf das Tagesgeschäft konzentriert, sondern schon an die nächsten Regierungen denkt.

Sind Andrea Nahles und Olaf Scholz eher Teil des alten Problems oder Teil der Erneuerung?

Neugebauer Andrea Nahles ist Teil des alten Problems und Teil der Erneuerung. Olaf Scholz ist Teil des alten Problems, aber nach meiner Einschätzung weniger ein Teil der Erneuerung. Als Finanzminister setzt er den Kurs der schwarzen Null seines Vorgängers Wolfgang Schäuble fort, ohne deutlich zu machen, was sozialdemokratische Politik sein sollte und muss: Investitionen in bestimmte Bereiche wie Bildung, um die soziale Spaltung der Gesellschaft zu reduzieren. In der Finanzpolitik sollte der Aspekt der Gerechtigkeit deutlicher werden - zum Beispiel über eine Entlastung von Alleinerziehenden. Wobei es erstaunlich ist, dass sich die SPD so lange um so etwas herumgedrückt hat. Hinzu kommt noch, dass Frau Nahles gerade in einem Interview angedeutet hat, dass sich die SPD möglicherweise von zentralen Aspekten der Agenda-2010-Politik trennen muss. Sie hat mit Herrn Scholz aber jemanden gegenüber, der die Agenda 2010 als SPD-Generalsekretär heftig verteidigt hatte.

Die Bundesregierung müsse die Kraft für einen Neustart finden - unabhängig vom Ausgang der Wahl in Hessen, meint Gabriel. Wird die Kanzlerin noch genügend Rückhalt haben, wenn Volker Bouffier seinen Sessel räumen muss?

Neugebauer: Wenn Volker Bouffier den Sessel räumen muss, weil er nicht mehr in der Lage ist, die neue Regierung anzuführen, dann ja. Wenn nicht, dann nein. Derzeit ist die Situation ambivalent. Auf der einen Seite erzielt die Kanzlerin in Umfragen keine guten Werte. Und es mehren sich die Diskussionen über Merkel in der dritten und vierten Reihe. Doch aus der Führungsriege gibt es keinen direkten Gegenwind. Wolfgang Schäuble warnt davor, die Kanzlerin zu schwächen. Die Ergebenheitsadressen, die nach der Bayern-Wahl auf Frau Merkel niederprasseln, sind eine Warnung: Wenn ihr Ambitionen in Richtung Parteivorsitz haben solltet, haltet euch zurück, es ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Etwas anders sieht das Horst Seehofer. Ein "Neustart" zwischen seiner CSU und der großen Schwester CDU sein nicht nötig. Insgesamt liefe es ganz gut. Wie einsam wird es um Seehofer? Herr Seehofer nutzt jede Chance, sich als Unikat darzustellen. Es ist nie ganz sicher, ob er sich oder seine Partei meint, wenn er davon spricht, dass bestimmte Zustände so sind wie sie sind und er sich als möglicher Verursacher ausblendet. Das Orakel von Delphi ist genau so sicher wie die Aussagen von Seehofer. Und man weiß, dass die Damen seinerzeit leicht berauscht waren, wenn sie etwas vorhergesagt haben. Kanzlerin Angela Merkel hat das schlechte Abschneiden von CSU und SPD in Bayern auf den Vertrauensverlust der Bürger in die Politik zurückgeführt. Was sollte umgehend angegangen werden, um Vertrauen wieder aufzubauen? Das verloren gegangene Vertrauen in die Regierungsfähigkeit ist nicht so sehr durch das, was sie gemacht hat, hervorgerufen worden, sondern vor allem, weil sie das dargestellt hat, was sie nicht hätte machen können. Es darf nicht länger sein, dass der Regierung im In- und Ausland Handlungsunfähigkeit attestiert wird. Die Regierung muss nun klar stellen: Wir fangen an zu arbeiten. Was sie dann macht, ist zunächst relativ egal. Denn die Ursachen des schlechten Abschneidens war das miserable Image, das sie selbst produziert hat.

Unions-Fraktionsvize Carsten Linnemann betont: "Wenn wir in der Großen Koalition jetzt nicht endlich die Kurve bekommen, war's das mit den Volksparteien." Hat er recht oder muss man schon jetzt fragen: Welche Volksparteien?

Neugebauer: In den 1960er-Jahren war die Vorstellung ganz klar: Eine Volkspartei kann große gesellschaftliche Gruppen unter einem ideologischen Dach vereinen. Sie kann allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen programmatische Angebote machen, kann ihre Interessen aufnehmen und in den politischen Prozess einbringen. Das setzt voraus, dass wir große homogene Gruppen haben: Der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter wählt die SPD, der christlich überzeugte Wähler die Union, der Mittelständler die FDP. Diese Zeiten sind seit dem Auftauchen der Grünen, spätestens aber seit der Wende, vorbei. Der ökonomische Fortschritt und der dadurch hervorgerufene soziale Wandel haben zu unterschiedlichen Lebensstilen und Milieus geführt. Heute ist es viel schwieriger geworden, diesen Milieus Angebote zu machen und sie an sich zu binden. Der Begriff Volkspartei wurde von Parteien benutzt, um ihren Anspruch zu legitimieren, der aber weder ihre Fähigkeit noch die Wirklichkeit widerspiegelte. Es gab Parteien, die sagten, wir bekommen Stimmen aus allen sozialen Gruppen und sind deshalb Volkspartei. Eine andere Partei sagte, wir können Regierungen anführen, deshalb sind wir eine Volkspartei. Man kann negativ fragen: Was sind diese Parteien sonst? Klassen-Parteien? Massen-Parteien? Demokratische Massen-Legitimationsparteien? Der Begriff Volkspartei ist von der Wirklichkeit längst überholt worden. Die CSU hat in Bayern bewiesen, dass sie keine Volkspartei mehr ist: Ihr gelingt es nicht, in der städtischen Bevölkerung Mehrheiten zu bekommen. Sie ignoriert, dass sich durch den sozialen Wandel und den wirtschaftlichen Erfolg die Interessenlagen der Gesellschaft ausdifferenziert haben. So verlor sie in bestimmten Bevölkerungsgruppen an Zustimmung.

Besteht die Gefahr, dass die Bundesrepublik auf Weimarer Verhältnisse zusteuert oder sollte man das Erstarken der Rechtspopulisten und die Schwächen der großen Parteien gelassener sehen?

Neugebauer: Einen Zusammenhang zwischen sozialem Wandel und Erinnerung an Weimarer Verhältnisse würde ich nicht herstellen. Für mich ist der Zusammenhang eher das Bekenntnis zum demokratischen, sozialen Rechtsstaat als Handlungsrahmen für Politik und das Bekenntnis zum Grundgesetz. Die Weimarer Republik ist zugrunde gegangen, weil die großen Parteien - mit Ausnahme der Sozialdemokraten - nicht bereit waren, diese Republik zu verteidigen. Heute ist Rechtspopulismus eine Strömung, die teilweise auch durch Impulse aus dem Ausland gesteuert wird. Zugleich haben wir in Deutschland politische Einstellungen, die gespeist werden aus Skepsis gegenüber verschiedenen Entwicklungen. Dazu gehört die Globalisierung von Arbeitsmärkten. Dazu gehören auch das Auftauchen von Flüchtlingen und die damit verbundene Behauptung, dies bedrohe unsere kulturelle und nationale Identität. Dazu gehört auch, dass Politik für manche Bürger zu unübersichtlich geworden ist. Es gibt also unterschiedliche Ursachen für Rechtspopulismus. Er ist generell in Teilen der Gesellschaft vorhanden. Das ist tolerierbar, solange sich Rechtspopulismus als politische Bewegung versteht, die versucht, einfache Antworten zu geben, die sich auf übersteigerten Nationalismus konzentriert. Der Rechtspopulismus wird aber dann zum Problem, wenn er übergeht zu Einstellungen, die eindeutig rassistisch sind, die antisemitisch sind, die einen völkischen Nationalismus predigen, der mit Demokratie nichts zu tun hat, sondern einen Führerstaat propagiert und Gewalt in der politischen Auseinandersetzung nicht ausschließt. Dann haben wir eine Entwicklung, die in manchen Zirkeln, die mit der AfD verknüpft oder schon in ihr beheimatet sind, schon zu beobachten ist.

Die AfD ist bei der Landtagswahl unter dem Bayern-Ergebnis der Bundestagswahl geblieben. Stößt Rechtspopulismus allmählich an seine Grenzen?

Neugebauer: In Bayern gibt es eine besondere Situation: Die Freien Wähler sind in bestimmten Punkten moderater als die AfD. Sie repräsentieren die heimattreue Fraktion der bayerischen Wähler und lässt so das Problem der verlorenen Identität in den Hintergrund treten. Auf Bundesebene sieht es leider anders aus. Generell gilt aber: Die AfD ist dann ein Problem, wenn nicht genau die Probleme beseitigt werden, die die AfD groß gemacht haben. Dazu brauchen wir Politiker, die klare Kante zeigen. Und wir brauchen eine Zukunftsperspektive für Deutschland, die die Auswirkungen nationaler und internationaler Entwicklungen transparent macht und darauf Antworten gibt.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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