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Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Krawalle in Ägypten Der Staat zerfällt CARSTEN HEIL

Bielefeld (ots)

Was ist los in Ägypten? Das, was in fast allen Revolutionen los ist. Wenn das staatliche Gefüge aus den Fugen gerät, niemand mehr die Übersicht hat und unterschiedliche Interessengruppen versuchen, sich auf Kosten anderer durchzusetzen, ist Mord und Totschlag die Folge. So wie am Mittwochabend im Fußballstadion von Port Said, wo bei Krawallen mehr als 70 Menschen getötet wurden und hunderte verletzt, viele davon schwer. Auch am Tag nach dem Horror gab es gestern keine echten Erkenntnisse über Ursachen und Hintergründe der Massenhatz, nur Spekulationen und Gerüchte. Auch das gehört zum Wesen von Revolutionen. Jede der um die Macht ringenden Parteien in Kairo versucht den Massenmord für die eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Die Machthaber aus den Reihen der Militärs schoben den Revolutionären die Schuld zu. Das kann schon deshalb kaum richtig sein, weil die meisten Opfer Ultra-Fans des Clubs Al Ahly waren, die die Revolution unterstützt hatten. Die mächtigen Muslimbrüder, die die Wahl gewonnen haben, sehen die Verantwortung bei den alten Mubarak-Anhängern. Auch das ist Spekulation. Sicher ist nur, dass die Sicherheitskräfte auf ganzer Linie versagt haben. Warum? Auch das ist offen. Möglicherweise aus Überforderung, vielleicht aber auch absichtlich, um Unruhe zu schüren und den Übergang in eine friedliche Demokratie zu verhindern. Vieles deutet darauf hin. Der demokratische Prozess ist weiter weg als jemals zuvor. Schlimmes ist für die Zukunft Ägyptens zu befürchten. Anders, als es in funktionierenden Gesellschaften der Fall wäre, sind in dem nordafrikanischen Land nicht alle gesellschaftlichen Kräfte nach dieser Katastrophe zusammengerückt. Nichts ist bekannt von einem gemeinsamen Aufruf zu Gewaltverzicht. Die Gefahr ist groß, dass Ägypten zumindest vorübergehend in Chaos und Gewalt versinkt. Denn neben der Gewalt in Fußballstadien, die in diesem Fall wohl politisch motiviert ist, aber schon seit langem in etwas schwächerer Form an der Tagesordnung, bekriegen sich religiöse Gruppen. Außerdem nimmt die schlichte kriminelle Gewalt zu. Der Zerfall des Staates ist kaum noch aufzuhalten. Gleichzeitig sinkt das Bruttoinlandsprodukt. Der Tourismus als wichtiger Wirtschaftsfaktor liegt am Boden. Wenn zu den politischen Unruhen noch Brotunruhen und materielle Verteilungskämpfe kommen, geht das Land schweren Zeiten entgegen.

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