Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Urteil gegen Silvio Berlusconi Ausnahmezustand als Normalität JULIUS MÜLLER-MEININGEN, ROM
Bielefeld (ots)
Warum tritt Silvio Berlusconi nicht zurück? Diese Frage dürfte viele Menschen beschäftigen - in Italien stellt sie sich kaum noch jemand. Hier haben die Menschen längst den großen Bruch akzeptiert, den Berlusconi in die politische Kultur eingeführt hat. Berlusconi hat sein Land gespalten. Auf der einen Seite stehen seine Gegner, die ihn für einen kriminellen Scharlatan halten; das ist die Mehrheit der Italiener. Auf der anderen Seite gibt es seine Anhänger oder diejenigen, die die italienische Justiz für parteiisch halten. Das denken nicht wenige Menschen in Italien. Auf ihrer Meinung baut Berlusconis perfide Strategie zur Verteidigung seiner selbst auf. Bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit wurde der viermalige italienische Ministerpräsident nun zu einer Haftstrafe verurteilt. Vor Monaten hatte Berlusconi vier Jahre wegen Steuerbetrugs bekommen. Beide Urteile sind erstinstanzlich und deshalb nicht rechtskräftig. Der demokratische Konsens, zu dem auch die Anerkennung von Gerichtsurteilen gehört, existiert in Italien nicht mehr. Nicht nur die Medienmaschine Berlusconis ist verantwortlich für diese Degeneration. Ein wichtiger Grund liegt in der Justiz selbst. In Italien gibt es kaum Rechtssicherheit, Prozesse dauern überdurchschnittlich lange. Italien hat den Primat der meisten Verjährungen im EU-Durchschnitt, die Gefängnisse sind überfüllt. Auf dieser Basis ist der Glaube an das vom Staat durchgesetzte Recht erschüttert. Dazu kommt, dass Berlusconis Gegner ihm auch noch Steilvorlagen geben. Mehrere Staatsanwälte traten bei der Parlamentswahl für linke Parteien an. Der Glaubwürdigkeit einer unabhängigen Justiz haben sie damit einen Bärendienst erwiesen. Auch deshalb tritt Berlusconi nicht zurück. Kein Mensch in Italien verlangt es von ihm. Der Ausnahmezustand ist Normalität geworden.
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