Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Bildungsstreik
Bielefeld (ots)
Schüler und Schule - dass daraus jemals eine Liebesbeziehung wird, steht nicht zu erwarten. Der Lehrer, der einen auf dem Kieker hat. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die man auch nach der zehnten Unterrichtsstunde partout nicht begreifen kann. Die Hausaufgaben, die wieder einmal kein Ende nehmen wollen: Darüber ärgern sich Pennäler seit der Erfindung der Schultafel. Da ist es nur verständlich, dass Schüler und Studenten zu tausenden dem Aufruf zum Bildungsstreik folgen. Das Schuljahr ist ohnehin fast vorüber, der Lehrplan abgearbeitet - unheilbare Bildungslücken sind also nicht mehr zu befürchten. Und den Vermerk »unentschuldigt« für die zwei, drei dem Streik geopferten Unterrichtsstunden trägt man stolz als Trophäe der Aufopferung um der guten Sache willen. Man könnte den Massenprotest also leichthin abtun als Mischung aus Ach-die-Schule-ist-so-schlimm-Gejammer und vorgezogener Wahlkampfhilfe der Linksgruppierungen, die den Bildungsstreik initiiert haben. Zu dieser Einschätzung neigt Bundesbildungsministern Annette Schavan (CDU) ebenso wie der Philologenverband. Doch ausgerechnet NRW-Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) erteilt denjenigen, die die Proteste der Schüler und Studenten tadeln, Nachhilfe in Sachen Demokratie: »Dass man für eine bessere Bildung demonstriert, finde ich in Ordnung.« Und mehr noch: Frank und frei räumt Pinkwart ein, dass an den Hochschulen noch nicht alles perfekt läuft. Diese Erkenntnis lässt sich auf die Schulen übertragen. So, wie die Studenten über enorme Verdichtung des Lehrstoffs klagen, so hetzen die Schüler zum Turbo-Abitur. Also alle Neuerungen abschaffen? Zurück zum Abitur nach Klasse 13, zum Diplom-Studium, bei dem es auf ein oder zwei Semester mehr gar nicht ankommt? Das wäre nicht nur volkswirtschaftlich unvernünftig, sondern auch eine Sünde an der Bildungselite der Zukunft: Wer schneller lernt und studiert, der verdient auch früher Geld. In fünf oder zehn Jahren wird das manch einer, der gestern noch Protestplakate trug, erfreut feststellen. Dann also: Weiter so? Auch falsch. Denn die Bildungsreformen sind ja - siehe Pinkwart - noch längst nicht perfekt. Turbo-Abi wie Bachelor-Studium sind auf Prüfungserfolg ausgerichtet, nicht auf Persönlichkeitsbildung. Wo aber soll die Platz finden, da der Alltag der Lernenden vollgestopft ist mit Faktenwissen, dessen Halbwertszeit immer kürzer wird? Wie sollen Schüler aus weniger gutgestellten Elternhäusern Anschluss halten, wenn Unterrichtsstoff kaum noch vertieft wird? Sollte deshalb die Ganztagsschule nicht zur Pflicht werden? Es ist Aufgabe der Politik, Schulen und Hochschulen dazu zu ermuntern, Mängel zu benennen und zu beheben. Schüler sollen aus Fehlern lernen. Die Politik muss es.
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