Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum NRW-Abitur
Bielefeld (ots)
Deutschland braucht kluge Köpfe. In Abiturienten wird viel Hoffnung gesetzt. Die Rechnung geht auf. Von Jahr zu Jahr werden es mehr. Waren es 2010 noch 77 657 erfolgreiche Abiturienten, wuchs die Zahl im vergangenen Jahr auf 80 611 - eine gute Nachricht. Im nächsten Jahr kommt die Steigerung von ganz alleine - dem doppelten Abiturjahrgang sei Dank! Was gut klingt, birgt aber auch Tücken. Immer bessere Abiturnoten heißt gleichzeitig einen immer härteren Numerus Clausus (NC; Zugangsberechtigungsnote) an Hochschulen. Das nimmt mittlerweile skurrile Züge an. So taucht an der Universität Bielefeld im Wintersemester 2011/2012 ein NC von 1,0 im Lehramtsfach Philosophie auf, die Molekularbiologie liegt bei 1,2 und Psychologie im Nebenfach bringt einen NC von 1,1 mit sich. Damit ist die Universität in guter Gesellschaft. Viele Hochschulen haben keine andere Wahl, als der Studentenschwemme über die Zugangsnote Herr zu werden. Und der Doppeljahrgang kommt erst noch. Darauf sind viele Hochschulen nicht eingestellt, Kapazitäten fehlen. Mehr Plätze können viele nicht schaffen. Die Konsequenz, das erneute Drehen an der Notenschraube, ist programmiert. Oder es tauchen Phänomene auf wie in Köln: Mehr als 90 Prozent der künftigen Grundschulanwärter fallen durch die Matheprüfung. So funktioniert Auslese auf speziellem Wege. Wenn Universitäten Eignungstests machen, wundern sie sich zudem oft über Defizite der potenziellen Studierenden. Immer wieder stellt sich die Frage, ob die bescheinigte Studiumsqualifikation in Form des Abiturs gleichzeitig auch Studiumsfähigkeit bedeutet. Hier ist das Grundproblem des Zentralabiturs versteckt. Mit der Einführung zentraler Prüfungen ist eine Fixierung auf das Abitur einhergegangen. Der Weg bis dahin, ist in den Hintergrund gerückt. Dabei ist die Hinführung zum höchsten deutschen Schulabschluss mindestens genauso wichtig wie dessen Erlangung. Das Fitmachen für die eine Prüfung überstrahlt die gesamte Schullaufbahn. Was entsteht, ist eine ungebremste Zertifikatsgläubigkeit, die nicht mehr hinterfragt wird. Dass das Handwerk über Fachkräftemangel klagt, wird überhört. Das Abitur wird zum Dreh- und Angelpunkt. Auf einer ähnlichen Ebene spielt auch die Debatte um ein bundesweites Zentralabitur. Die Kultusministerkonferenz traut sich nicht, sich eindeutig zu entscheiden. Einheitliche Standards ja, Zentralabitur nein! Das wird ein schwieriger Mittelweg zwischen bundesweiter Bürokratie, um Einheitlichkeit zu erreichen, und Autonomie sowie Wünschen der Länder. Gleichmachen heißt mehr Vorhersehbarkeit, also bessere Noten. Wer will keinen guten Abschluss? Was den Einzelnen erfreut, entwertet das Abitur. Wenn jeder Fünfte, an Gymnasien sogar jeder Vierte, eine Eins vor dem Komma auf dem Abiturzeugnis bekommt, stellt sich die Frage, was Normalität ist und wo Exzellenz beginnt.
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