Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Thema Genetik
Bielefeld (ots)
Der Mensch kehrt aus dem Baumarkt zurück nach Hause und kippt seine Schätze auf den Teppich: Bretter, Schrauben jeder Dicke und Länge, Unterlegscheiben, Muttern, Streben, Dübel undsoweiter undsofort. Wenn - falls! - es ihm gelingt, das Chaos der Bauteile zu ordnen, dann ist noch lange nicht gesagt, dass am Ende in der guten Stube ein tragfähiges Regal steht. Genau so ist es mit dem Genom. Längst kann der Mensch im Internet für ein paar hundert Euro einen Homekit, einen Baukasten, bestellen, mit dessen Hilfe er seine individuelle Gensequenz entschlüsselt. Dann sitzt der Mensch vor seinen 3,2 Millionen Basenpaaren, die sich zu 23 000 Genen gruppieren, und fragt sich: Bin ich nun krank? Muss ich jetzt zum Arzt? Amerikanische Forscher haben soeben von Frauen gespendete Eizellen entkernt und die Kerne von Hautzellen in die leere Hülle pipettiert. Im Blastozystenstadium, das bei einer regulären Schwangerschaft am fünften Tag erreicht ist, haben sie den Embryo - nichts anderes ist dieser Haufen aus 100 bis 200 Zellen - zerstört: in seine Einzelteile zerlegt, in die Stammzellen. Stammzellen können vieles, sie sind pluripotent. Man kann aus ihnen Gewebezellen machen oder Leberzellen oder Nervenzellen oder Muskelfasern. Dann muss man diese Fleisch gewordenen Genketten nur noch ans Genom dübeln und ordentlich verschrauben - fertig ist das tragfähige Regal, Verzeihung: der gesunde Mensch natürlich. Behauptet die Biotech-Industrie. Die die Homekits verkauft. Die Wahrheit ist, dass sich die DNS-Sequenzen zweier Menschen an jeder 800. Stelle unterscheiden, Auffälligkeiten im Genom mithin ein Massenphänomen sind. Müssen jetzt alle sieben Milliarden Menschen zum Arzt? Die Biomedizin gerät ins Träumen. Wahr ist auch, dass Frauen, die Eizellen spenden, gesundheitliche Risiken eingehen. Wahr ist, dass die in den USA gewonnenen Zellen keinen Jungbrunnen darstellen, sondern Material, das genetisch so alt ist wie der Mensch, von dem die Zellkerne stammen. Dass auch eine alternative Methode zur Gewinnung pluripotenter Zellen vor allem eines erzeugt: ungehemmtes Zellwachstum. Man nennt das Krebs. Als ob der Alzheimerkranke, der Diabetiker, der Herzinfarktgefährdete und der Parkinson-Patient, dem die Bioingenieure Heilung versprechen, mit seinem Leiden nicht schon genug gestraft wäre. Der Berliner Genetiker Hans Lehrach sagt, Wissenschaftler hielten nur das für mitteilenswert, was sie messen können. Im menschlichen Genom haben sie ein paar Inseln lokalisiert, der Rest sind Gensequenzen, deren Funktion niemand kennt: ein Meer der Unwissenheit. Im selben Maß, wie die Experten vorsichtig werden, wächst das Vertrauen der Laien in die Aussagekraft von Erbgutdaten. Krankheiten, glauben sie, haben bloß genetisch-biologistische Ursachen. Falsch. Aber es ermöglicht das beste Geschäft der Welt: das Geschäft mit der Angst.
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