Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Großen Koalition
Bielefeld (ots)
Opposition ist Mist, aber unter einer Kanzlerin Angela Merkel mitzuregieren fast genau so schlimm. Nach 100 Tagen in der Großen Koalition hat die SPD im Allgemeinen und Sigmar Gabriel im Besonderen die ersten Kratzer davongetragen. Während Merkels Beliebtheitswerte konstant hoch sind, hat der Wirtschaftsminister nach dem ARD-Deutschlandtrend fünf Punkte eingebüßt. Die SPD dümpelt bei 24 Prozent - das sind nochmals drei Prozentpunkte weniger als im Februar. Der Fall Edathy ist als erstes zu nennen, um den abermaligen Einbruch der Sozialdemokraten zu erklären. Ein Spitzenpolitiker, der sich Fotos nackter Kinder bestellt, ist untragbar - ganz gleich, ob er es legal getan hat oder nicht. Aber es ist nicht allein dieser Skandal, der die SPD nach unten zieht. Wir alle haben den SPD-Vollgasstart noch in Erinnerung: Kaum war Sigmar Gabriel als Vizekanzler, Wirtschaftsminister und Manager der Energiewende im Amt, legten er und seine Minister los wie die Feuerwehr. Die Wünsch-Dir-was-Liste der SPD mit Themen wie dem flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro und der Rente mit 63 wurden durchgepeitscht, die drohenden Folgen wie der Abbau von Arbeitsplätzen und der demografische Wandel ausgeblendet. Die SPD-Hyperaktivität gipfelte in der Forderung der Familienministerin Manuela Schwesig nach einer 32-Stunden-Arbeitswoche für Eltern. Zwar ist die Mehrheit (82 Prozent) laut ARD aus Gründen der Gerechtigkeit für den Mindestlohn von 8,50 Euro, aber gleichzeitig wächst die Sorge vor dem Abbau von Arbeitsplätzen. Nicht anders bei der Rente mit 63: Mehr als drei Viertel der Deutschen sind dafür, aber zugleich wissen die meisten, dass die Kinder und Enkel die Zeche zahlen müssen. Die Deutschen sind da unentschlossen. Vielleicht auch, weil die SPD die Themen mit zu hohem Tempo und zu oberflächlich angepackt hat. Und CDU/CSU? Man hatte in den ersten 100 Tagen den Eindruck, als gäbe es die Union gar nicht in der Groko. Sie hat zwar den SPD-Wünschen zugestimmt und trägt somit die volle Verantwortung. Aber wie früher bei Schwarz-Gelb bleibt die Union verschont und geht aus Umfragen im Vergleich mit der SPD als Sieger hervor. Ein Schelm, wer jetzt denkt, die Kanzlerin habe ganz bewusst dazu beigetragen, dass sich die SPD verrennt. Zum Beispiel mit ihrer Entscheidung, Gabriel die Mammutaufgabe Energiewende zu übertragen. Zum Beispiel mit ihrer Zurückhaltung bei der Rente mit 63 oder auch dem Mindestlohn. Im Gegensatz zu Gabriel kennt Merkel ihre Rolle bestens. Sie weiß, wann sie abwarten muss. Taktisch kann ihr niemand das Wasser reichen. Falls es sie je gegeben hat, ist die Schonfrist nach 100 Tagen vorbei. Die Große Koalition muss beweisen, dass sie eine Vision für Deutschland hat. Nur Geschenke zu verteilen, reicht nicht.
Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261
Original-Content von: Westfalen-Blatt, übermittelt durch news aktuell