Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Europawahl
Bielefeld (ots)
Wieder liegt ein Wahltag hinter uns, und wieder ist die politische Welt ein bisschen komplizierter geworden. Die Ära, in der große Volksparteien mit einfachen Parolen eine treue Stammwählerschaft bedienen und die Parlamente dominieren konnten, neigt sich dem Ende zu. Wäre das gestern nicht die Europawahl gewesen, sondern eine Bundestagswahl, die Große Koalition in Berlin wäre mit Pauken und Trompeten abgewählt worden. Es ist nichts weniger als ein Fiasko für das mühsam miteinander regierende Bündnis. Während die Union trotz tiefer Schrammen noch vergleichsweise glimpflich davonkommt und sich mit dem Ergebnis in Bremen zumindest ein klein wenig trösten kann, stürzt die SPD ins Bodenlose. Doch was soll die älteste noch aktive deutsche Partei jetzt tun? Wieder mit der Parteiführung hadern? Die Wahllokale waren noch nicht geschlossen, da wurde am Wochenende schon lautstark darüber getuschelt, der gescheiterte Kanzlerkandidat Martin Schulz wolle Parteichefin Andrea Nahles von der Spitze der Bundestagsfraktion verdrängen. Wahlschlappe gleich Führungsdebatte: Das ist schon nach früheren Niederlagen nicht gut angekommen, doch die SPD scheint in diesem Punkt unbelehrbar zu sein. Der SPD bleibt kaum mehr als die Wahl zwischen Pest und Cholera. Option 1: die Große Koalition aufkündigen und Neuwahlen in der Hoffnung auf ein rot-rot-grünes Bündnis anstreben. Eine solche Mehrheit erscheint angesichts der gestrigen Ergebnisse aber nicht einmal sicher zu sein. Und die Sozialdemokraten wären bestenfalls Juniorpartner unter einem grünen Bundeskanzler Robert Habeck. Option 2: in der ungeliebten Großen Koalition bleiben und dort weiter um Profil kämpfen. Auch wenn das Gezerre um die Grundrente wenig Hoffnung macht: Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn SPD und Union einfach einmal die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag abarbeiten würden. Die Grünen wiederum, getragen von Klima-Demos und blühendem Öko-Zeitgeist, können sich für ihr historisch gutes Ergebnis herzlich wenig kaufen. An der Zusammensetzung des Bundestags ändert die Europawahl nun einmal gar nichts, und in Bremen dürfte es nach Rot-Grün auf Rot-Grün-Rot hinauslaufen. Ein strammer Linkskurs, der so manchen bürgerlichen Grünen-Sympathisanten anderso wieder verschrecken könnte. Wie ein politisches Zukunftsmodell in Deutschland aussehen könnte, lässt sich vielleicht schon bald im EU-Parlament besichtigen. Dort ist die Große Koalition seit gestern Geschichte. Liberale und Grüne werden dort neben Sozialdemokraten und Konservativen kräftig mitmischen - und sich bei der Verteilung der Führungsposten zu Wort melden. Auch inhaltlich werden die proeuropäischen Parteien Kompromisse machen müssen, wollen sie sich den wachsenden eurokritischen und antieuropäischen Kräften entgegenstellen. Klar ist nun auch, dass die populistischen Parteien kein vorübergehendes Phänomen in der europäischen Politik sind, auch wenn die AfD in Deutschland unter ihren Erwartungen blieb. Als Sammelbecken für die Politikverdrossenen aller Länder haben sich diese Parteien etabliert. In Frankreich liefert sich Marine Le Pen sogar ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Emmanuel Macron. »Politik ist die Kunst des Möglichen«, hat Otto von Bismarck schon vor anderthalb Jahrhunderten festgestellt. Die Parteien in Europa und in Deutschland werden nicht umhinkommen, neue Möglichkeiten auszuloten.
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