"Verschwindenlassen"
Schicksale von Zehntausenden in Europa
"Verschwundenen" ungeklärt
Bonn (ots)
Bitte beachten Sie die Sperrfrist: Donnerstag, 30. August 2001, 0.01 Uhr
"Verschwindenlassen" auch in Europa verbreitet / Bosnien-Krieg führte zum "Verschwinden" von mehr als 20.000 Menschen / 90 Prozent der Fälle bis heute nicht aufgeklärt / Im Kosovo mehr als 4.500 Schicksale ungewiss / Auch in Russland, Weißrussland, der Ukraine und der Türkei "verschwinden" Menschen
Anlässlich des internationalen Tages der "Verschwundenen" weist amnesty international darauf hin, dass "Verschwindenlassen" auch in Europa weit verbreitet ist. Die Menschenrechtsorganisation fordert deshalb die verantwortlichen Regierungen auf, die Schicksale aller "Verschwundenen" durch unabhängige Untersuchungskommissionen aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
"'Verschwindenlassen' ist eine Menschenrechtsverletzung, die in alle Bereiche der Persönlichkeit eingreift. Und sie trifft nicht nur das Opfer selbst, sondern fügt auch den Angehörigen großes Leid zu. Die oft jahrelange Ungewissheit über das Schicksal eines geliebten Menschen ist nicht weniger quälend als Folter," sagt Gerd Domer, Europa-Experte von amnesty international. Weltweit sind 45.998 Fälle aus 30 Ländern bekannt.
Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat zu Menschenrechtsverletzungen geführt, die Europa in dieser Größenordnung seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat. Dazu gehört auch das "Verschwindenlassen" von Zehntausenden. In Bosnien-Herzegowina sind sechs Jahre nach dem Ende des Krieges 90 Prozent der 20.577 beim Internationalen Roten Kreuz registrierten Schicksale unaufgeklärt. Allein aus der UNO-Enklave Srebrenica wurden nach der Eroberung der Stadt im Juli 1995 mindestens 8.000 muslimische Männer von der bosnisch-serbischen Armee verschleppt.
In Kroatien hat eine Regierungskommission offiziell anerkannt, dass der Aufenthalt von über 1.000 kroatischen Serben nicht geklärt werden konnte. Auch der Kosovo-Konflikt hat zum "Verschwinden" zahlreicher Menschen geführt. Mehr als 3.000 Kosovo-Albaner sind seit ihrer Festnahme zwischen Anfang 1998 und Juni 1999 durch serbische Polizei und Paramilitärs "verschwunden". Nach dem Einmarsch der NATO-Truppen im Juni 1999 sollen nach Angaben von Angehörigenvereinen rund 1.500 Serben und Roma von der UCK entführt worden sein.
Während des Tschetschenien-Krieges sind mehr als 1000 Personen in russischer Untersuchungshaft "verschwunden". Ihre Leichen wurden später in Massengräbern entdeckt. In einigen Fällen verkauften russische Militärs die sterblichen Überreste an die Angehörigen. Der Sonderbeauftragte des russischen Präsidenten für "Menschenrechte in der Tschetschenischen Republik" hat in der ersten Hälfte dieses Jahres 1.200 Anzeigen wegen willkürlicher Haft und "Verschwindenlassen" erhalten. Die zuständige Staatsanwaltschaft hat dagegen lediglich 150 Fälle von "Verschwindenlassen" ermittelt. Dabei wurden in den vergangenen Wochen bei "Säuberungsaktionen" Hunderte Tschetschenen festgenommen, von denen viele seitdem "verschwunden" sind.
Menschen "verschwinden" aber nicht nur in Konfliktsituationen. "Verschwindenlassen" ist auch ein probates Mittel, um politische Gegner und unabhängige Journalisten zum Schweigen zu bringen. Ein Beispiel dafür ist Weißrussland. Dort sind hochrangige Politiker wie der frühere Innenminister Juri Sacharenko, oder der stellvertretende Sprecher des - inzwischen aufgelösten - Parlaments, Viktor Gontschar "verschwunden". Es gibt deutliche Hinweise, dass sie ermordet wurden. Seit Juli vergangenen Jahres fehlt auch von Dmitri Sawadski, einem Kameramann des russischen Fernsehens, jede Spur.
In der Ukraine verschwand der Journalist Georgij Gongadse. Am 16. September 2000 kehrte er nach dem Besuch eines Freundes in Kiew nicht nach Hause zurück. Wochen später wurde in der Nähe von Kiew eine Leiche ohne Kopf gefunden. Forensische Untersuchungen deuten daraufhin, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Gongadse handelt. Wer für das "Verschwinden" von Georgij Gongadse verantwortlich ist, wurde bis heute nicht ermittelt.
In der Türkei bergen unbestätigte Festnahmen ein hohes Risiko zu verschwinden. So werden seit dem 25. Januar dieses Jahres zwei Politiker der legalen pro-kurdischen Partei HADEP, Serdar Tanis und Ebubekir Deniz, vermisst. "Tausenden Familien wird ein fundamentales Recht verweigert: die Wahrheit über das Schicksal ihrer vermissten Angehörigen zu kennen," so Gerd Domer.
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