Friedrich Bohl tiefer in die Aktenschwund-Affäre im Kanzleramt verstrickt als bisher bekannt
Zeugen belasten den ehemaligen Kanzleramtsminister
DIE ZEIT berichtet aus den geheimen Anhörungs-Protokollen des Hirsch-Reports
Hamburg (ots)
Der frühere Kanzleramtsminister Friedrich Bohl ist tiefer in die Aktenschwund-Affäre im Kanzleramt verstrickt als bisher bekannt. Das geht aus den geheimen Anhörungs-Protokollen des Sonderermittlers Burkhard Hirsch hervor, aus denen DIE ZEIT in ihrer jüngsten Ausgabe zitiert. Hirsch hatte seinen Bericht vor drei Wochen vorgelegt und darin festgestellt, dass kurz vor dem Regierungswechsel 1998 zwei Drittel der Daten im Kanzleramt zentral und heimlich gelöscht wurden sowie wichtige Akten verschwunden waren. Verantwortliche hatte Hirsch noch nicht benannt.
Die geheimen Anhörungsprotokolle enthüllen jetzt neue Einzelheiten über die Verantwortung für die gesetzeswidrige Vernichtungsaktion. Eine Sekretärin aus Bohls Büro hat ausgesagt, Bohls Büroleiter und Bohls Referent hätten Akten "aussortiert und vernichtet". Sie selbst sei "angewiesen worden, die Hausarbeiter mit Containern zu holen" und habe "das Vernichten des Papiers durch die Hausarbeiter" beaufsichtigt. Ein anderer Zeuge beobachtete, wie Papier, offenbar Schredder-Schnipsel, "mit Kleinlastern" aus dem Kanzleramt abtransportiert wurden.
Friedrich Bohl hat bisher beteuert, er habe weder selbst Akten vernichtet noch die Vernichtung angeordnet. Sein Büroleiter hat - laut Anhörungsprotokoll - ausgesagt, bei Bohl seien "keine Amtsakten geführt" worden, wohl aber "Koalitionsakten" und eine "Ablage persönlicher Unterlagen". Die seien teilweise entsorgt worden. Der ZEIT liegt aber nun eine bislang geheim gehaltene Liste aus rekonstruiertem Datenmaterial vor, die die Akten im Büro Bohl beschreibt: Es waren keineswegs nur Privatpapiere, sondern Akten über den Bundesnachrichtendienst, Waffenverkäufe oder außenpolitische Strategiepapiere. Alle Papiere sind bislang verschwunden. Bohl wollte sich gegenüber der ZEIT zu den Vorwürfen nicht äußern.
Auch hinsichtlich der zentralen Datenlöschung belastet ein Zeuge den früheren Kanzleramtsminister. Der Zeuge berichtet, die Datenvernichtung sei "in irgendeiner Weise verabredet" worden. Zwar habe nur der Abteilungsleiter Zentralverwaltung, Hans-Achim Roll, eine Weisung zur Löschung erteilt. Roll soll dem Zeugen aber gesagt haben, er müsse die Vernichtung "anweisen, denn es sei seine Aufgabe als politischer Beamter, seinen Minister zu schützen". Gemeint ist Friedrich Bohl.
Eine weitere Spur führt in das Büro von Helmut Kohl. In seinem Bürobereich wurden unter anderem alle Daten des zentralen Such- und Findsystems des Kanzlersamtes gelöscht. Ein Zeuge, der in diesem Büro arbeitet, sagt - laut Protokoll - über die Vernichtung: "Die Anweisung kam von Dr. Neuer". Walter Neuer war der Bürochef von Helmut Kohl und sagt heute aus, er habe seinerseits Weisung erhalten. Allerdings nicht von seinem Chef Helmut Kohl, sondern nur von einem Abteilungsleiter. Der frühere Kanzler Kohl hat bisher behauptet, von Daten- und Aktenschwund im Kanzleramt nichts zu wissen.
Die Anhörungs-Protokolle sind am vergangenen Freitag der Bonner Staatsanwaltschaft übergeben worden. Die Behörde ermittelt wegen des Verdachts des Verwahrungsbruchs gegen Unbekannt.
Diese Vorabmeldung aus der ZEIT Nr. 30/2000 mit Erstverkaufstag am Donnerstag, 20. Juli 2000 ist unter Quellen-Nennung DIE ZEIT zur Veröffentlichung frei. Der Wortlaut des ZEIT-Interviews kann angefordert werden.
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