ZEIT-Interviews mit Prominenten: Was war ihnen 2003 wichtig? (Teil 2 von 2)
Hamburg (ots)
Noch Fragen?
Tabuthemen und Blackouts, die Liebe zu den Gästen und das Scheitern an ihnen: Ein Gespräch übers Gesprächeführen mit Reinhold Beckmann und Günter Gaus
Herr Beckmann, Herr Gaus, darf ich Ihnen, bevor es richtig losgeht, die erste Frage vorlegen?
Beckmann: Herr Kollege, Sie sind nicht Günter Gaus!
Gaus: Und wir sind nicht im Fernsehen.
Man erzählt sich, Herr Gaus, dass Sie den Gästen in Ihrer legendären Porträtreihe »Zur Person« kurz vor Aufzeichnungsbeginn immer die erste Frage verraten.
Gaus: Mein Gegenüber bekommt wenige Minuten vor der Sendung die erste Frage im Wortlaut zur Kenntnis und ohne Einspruchsrecht. Er bekommt sie aus dem Grund, der für jemanden, der wie Herr Beckmann und ich Interviews oder Gespräche führt, sehr einleuchtend ist: Wenn man eine Sendung über 45 oder gar 60 Minuten durchstehen will, muss man einen Spannungsbogen aufbauen. Dafür ist der Beginn eines Interviews außerordentlich wichtig. Wenn die erste Frage aber nicht von dieser Welt ist, wenn der Gesprächspartner von ihr irritiert oder so überrascht wird, dass er sprachlos dasitzt und schweigt ...
Beckmann: ... oder Fluchtfantasien entwickelt, nach dem Motto: »Holt mich bloß hier raus! ...«
Gaus: ... dann ist das Interview bereits beendet, bevor es richtig
begonnen hat. Jedenfalls wäre es dann ungleich schwieriger, einen vernünftigen Bogen zu schlagen.
Hier also die erste Frage: Wann halten Sie ein Gespräch oder ein Interview für gelungen? Nennen Sie bitte drei Kriterien.
Gaus: Erstens, wenn die Leute, die uns zugesehen haben, hinterher über den Mann oder die Frau, deren Porträt ich zeichnen will, mehr wissen als vorher. Wenn also die befragte Person in ihrer Vielschichtigkeit transparent geworden ist. Zweitens, wenn der Interviewte hinterher sagt: »So habe ich das eine oder andere bisher noch nie betrachtet. Ich muss darüber nachdenken.« Drittens: Ich muss nach dem Interview etwas weniger neugierig auf den Menschen sein.
Beckmann: Für mich ist es, erstens, wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich meine Gäste wohlfühlen. Ein Gast, der sich nicht wohlfühlt, wird mir auch nicht viel erzählen. Zweitens darf bei einem gelungenen Gespräch der Gast während der Sendung und danach nie das Gefühl gehabt haben, dass er sich in einer öffentlichen Situation befunden habe. Obwohl sie natürlich öffentlich ist!
Der Kuschelfaktor.
Beckmann: Dummes Zeug. Es geht vielmehr darum, dass der Gast während der Sendung nicht in die Rolle gedrängt wird, beim Moderator oder beim Publikum um Anerkennung buhlen zu müssen. Ein gutes Gepräch spekuliert nicht auf vordergründige Pointen, auf den Beifall oder die Ungeduld eines Publikums. Das heißt, es lebt von Aufmerksamkeit und gegenseitigem Interesse. Das dritte Kriterium ist ...
Gaus: Verzeihung, dass ich unterbreche, aber eines finde ich interessant: Sie beschreiben lauter Dinge, die Sie nicht tun wollen.
Beckmann: Im Gegenteil, ich beschreibe, was wir tun.
Gaus: Nein! Sie sagen, dies und jenes will ich nicht haben: um das Publikum buhlen und nach Pointen heischen. Sind Sie nicht gerade darauf angewiesen?
Beckmann: Fernsehunterhaltung muss nicht immer laut und grell sein, das ist ein Missverständnis. Im Übrigen geht es dabei nicht um mich, sondern um die Form des Gesprächs. Also um die Frage nach dem Saalpublikum, auf das wir aus genau diesen Gründen nach einem Jahr verzichtet haben.
Das dritte Kriterium?
Beckmann: Das dritte Kriterium besteht darin, dass das Gespräch einen Spannungsbogen, eine Dramaturgie haben muss. Das schulden wir der Unterhaltung, daraus ergibt sich die Kraft, die ein gutes Fernsehgespräch entwickeln kann. Daher ist die Auseinandersetzung mit dem Gast in der Vorbereitung so wichtig. Es gilt für Gespräche, egal, mit wem man sie führt: Du kannst nur aus dem Ärmel ziehen, was du vorher hineingesteckt hast.
Wie wichtig ist Ihnen beiden dabei die Möglichkeit, im Zweifel nach der Aufzeichnung im Schneideraum beim Spannungsbogen noch mithelfen zu können?
Gaus: Bei uns wird nichts geschnitten. Es gibt kaum Ausnahmen.
Kaum?
Gaus: Es gibt einige ganz wenige berühmte Ausnahmen. Als ich Konrad Adenauer zu Gast hatte, hatte dieser alte Mann - er war nicht mehr Kanzler und weit über 80 - nach etwa zehn Minuten im Interview einen Blackout. Ich habe erstmals aus großer Nähe erlebt - und das war überaus beklemmend, ich möchte es nicht wieder erleben -, wie dieser Mann plötzlich blicklos dasaß. Nach ungefähr 28 Sekunden schüttelte er sich dann wie ein Pudel, der aus dem Wasser kommt, und fing an, eine Frage noch einmal zu beantworten, die er, bevor er diese Absence hatte, schon beantwortet hatte. Dies haben wir herausgeschnitten. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine kleine Gehässigkeit. Ich halte es für wahrscheinlich, dass heute genau diese Passage im Anreißer im Abendprogramm gewesen wäre - »Verpassen Sie nicht heute Abend: Adenauers Blackout«.
Beckmann: Auch wir schneiden genau dann, und nur dann, wenn solche Momente auftreten. Grundsätzlich gilt, jeder Zwischenton ist willkommen, jede persönliche Farbe verleiht einem Gespräch eigenen Charme und Charakter. Nichts ist schlimmer als sterile Perfektion, die eine Gesprächssituation vortäuscht. Doch kürzlich hatten wir Doris Schröder-Köpf zu Gast. Da kam es bei ihr plötzlich zu einer allergischen Reaktion, einem Niesanfall. Das hat sie eine ganze Zeit lang behindert. Natürlich haben wir das herausgeschnitten.
Gibt es Themen, über die bei Ihnen nicht gesprochen wird oder gesprochen werden darf?
Gaus: Es gibt drei Themenfelder, die ich nur anspreche, nachdem der Gast vorher zugestimmt hat: Das gilt für mich für religiöse Themen und für den Bereich Sexualität. Und das gilt für Tragödien, die den Menschen getroffen haben. Bei diesen Themen frage ich meine Gäste vorher: Darf ich sie berühren? Wenn der Mann oder die Frau, die ich interviewe, sagt: »Bitte nicht!«, dann wird das Thema nicht angefasst; und es wird niemals von mir erwähnt, dass mein Gegenüber dieses Thema nicht angefasst wissen wollte.
Beckmann: Auch die Redakteure meiner Sendung fragen im Vorgespräch: Über welches Thema möchten Sie nicht reden? Und selbstverständlich halten wir uns daran. Wir werden keinen Gast in Verlegenheit bringen. Das Vorführen von Menschen ist nicht Gegenstand unserer Sendung. Das wissen unsere Gäste.
Da scheint Einigkeit zu herrschen.
Gaus: Nein. Ich rede niemals mit einem Menschen in dem Vorgespräch über die Themen, die ich anschneiden werde. Ich sage nur: Wenn Sie nicht wollen, dass ich Religiöses anschneide, tue ich das nicht.
Beckmann: Vor der Sendung sitze ich mit den Gästen kurz zusammen und entscheide, wer wie viel Zuwendung braucht, der eine ist eben nervöser als der andere. Aber meine Sendung lebt davon, dass nicht alles vorgeknetet ist. Vieles ergibt sich aus der Situation, lebt vom Moment der Überraschung und der Auseinandersetzung. Das macht den Unterschied aus zwischen dem Interview und einem Gespräch, wie ich es in meiner Sendung führe.
Gaus: Natürlich sind meine Interviews auch Gespräche. Ich betone nur, dass ich Interviews führe, um den Unterschied zu Diskussionen deutlich zu machen. Ich stelle Fragen und erwarte Antworten. Darüber kann man sprechen, aber ich will nicht diskutieren. Völlig einig sind wir hingegen, was das Wohlfühlmoment betrifft: Ich habe einmal Aenne Burda befragt. Sie kam ins Studio Hamburg und sah den Sessel, in dem sie sitzen sollte. Sie sagte: »Herr Gaus, in diesem Sessel wird es kein Interview mit mir geben.« - »Warum nicht?«, fragte ich. Darauf sie: »Sie sind ein Mann. Ich trage einen Rock. In dem Sessel werden meine Knie so unansehnlich, dass ich mich nicht auf ihn setzen werde - noch dazu, da ich die ganze Zeit im Bild bin und Sie nur von hinten angeschnitten werden.« Darauf sind Aenne Burda und ich durch den Fundus von Studio Hamburg gegangen, und sie hat Probe gesessen, bis sie einen Sessel gefunden hatte, der in die Dekoration passte und ihre Knie so schön aussehen ließ, wie sie dies waren. Also: Wohlfühlen ist sehr hilfreich.
Welche Rolle spielt für die Qualität von Interviews ein persönliches Verhältnis zwischen Frager und Befragten?
Beckmann: Es gibt Beispiele dafür, dass es helfen kann, über eine gewisse Vertrautheit mit dem Gast ins Gespräch zu finden oder ein Thema zu vertiefen. Andere Beispiele zeigen, dass es schaden kann. Hilfreich war es bei mir im Falle von Götz George, der vier- oder fünfmal bei uns war. Erst das Zutrauen oder die kleine Freundschaft, die später zu einer größeren wurde, machten es möglich, dass er überhaupt bereit war, sich auf solch ein Gespräch einzulassen. Er war in einer schwierigen Zeit nach dem Konflikt mit seiner ehemaligen Frau, eigentlich hatte er sich komplett zurückgezogen. Ohne das Vertrauen, ohne das Sichkennen wäre das Gespräch nicht möglich gewesen. Das ist ein gutes Beispiel.
Das schlechte?
Beckmann: Ich denke an Boris Becker, bei dem die persönliche Nähe am Anfang sicher ein Vorteil war. Gegen Ende kam da so viel Wissen über Privates zusammen, dass ich nach vier, fünf Gesprächen gesagt habe: Jetzt ist es gut; im Moment fehlt mir die Distanz, die Spannung, die ich einfach brauche, um mich einem Gast zu nähern und ihm in der Sendung interessiert oder auch kritisch zu begegnen.
Gaus: Das beste Gespräch, das ich je geführt habe, war das mit Hannah Arendt. Es fand 1964 statt. Sie war damals in einer sehr schwierigen Situation. Sie hatte ihr Buch Eichmann in Jerusalem geschrieben, das ihr große Feindseligkeit in Israel eingetragen hatte. Ich war mit großem Bangen an dieses Interview herangegangen. Hannah Arendt war eine bedeutende politische Philosophin, und ich hatte gehörigen Respekt. Als ich zum Vorgespräch zu ihr ins Hotel ging, traf ich auf eine außergewöhnlich charmante Dame. Ich habe mich vom Fleck weg in sie verliebt - wirklich. Das hat sicherlich auf die Qualität des Gesprächs, des Interviews eingewirkt. Also: Es hilft!
Herr Gaus, Sie haben vor Jahren einmal gesagt, Sie würden Boris Becker niemals interviewen, da er - sinngemäß - keine Ihrer Gesprächsform angemessene Biografie habe. Gilt das für Sie noch immer?
Gaus: In der Tat. Die Biografie von Boris Becker ist nach meiner Meinung zeithistorisch nicht relevant, auch heute noch nicht. Ich habe große Zweifel, ob seine Biografie über 45 Minuten Zur Person tragen würde.
Beckmann: Eigentlich tue ich es ungern, aber hier möchte ich Ihnen doch gerne widersprechen. Ich glaube, dass Boris Becker als gesellschaftliche Figur in seiner Biografie Profil gewonnen hat. Man mag sich kritisch damit auseinander setzen, wie
Es folgt eine PRESSE-Vorabmeldung der ZEIT Nr. 1 mit Erstverkaufstag am Montag, 22. Dezember 2003
Die kompletten ZEIT-Interviews der nachfolgenden Meldung finden Sie im Anhang.
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