Rheinische Post: Das Jahr der Reformitis - Von SVEN GÖSMANN
Düsseldorf (ots)
Irgendwer hat von diesem 22. November als "einem Feiertag" gesprochen. Um mit dem Altkanzler zu reden, möchte man rufen: Nun lassen Sie mal die Kirche im Dorf! Fakt ist: Die große Koalition aus Union und SPD ist heute ein Jahr im Amt. Und?
Es wäre ungerecht, nur von einem verlorenen Jahr zu reden, wie das ein genervter Wolfgang Schäuble zwischendurch mal tat. Es ist durchaus etwas passiert, nur ob es immer das Richtige in ausreichender Form war (Unternehmenssteuer, Erbschaftssteuer), darüber lässt sich in einigen Fällen streiten und in vielen anderen leider nicht einmal das.
Das liegt unter anderem an den überzogenen Hoffnungen, die auch von den Koalitionären selbst geweckt wurden. Die Erwartung wurde wie ein Imperativ formuliert: große Koalition = große Reformen! Die Vermutung, Union und SPD hätten sich so weit genähert, dass mit der großen Koalition eine große Regierungspartei entstehen wurde, scheiterte an der Realität. Immer noch trennen Christdemokraten, Christsoziale und Sozialdemokraten Welten bei ihren Ansprüchen an das, was der Staat leisten muss, wie man die Freiheit des Einzelnen beschreibt und welche Forderungen sich daraus ergeben.
Die Koalitionsparteien haben auch erst allmählich verstanden, dass das unentschiedene Wahlergebnis von 2005 nicht in erster Linie ein Auftrag für die große Koalition, sondern ein Misstrauensantrag gegen die von ihnen schon vorher verantwortete Politik war. Ihre zögerliche Reaktion: Aus Furcht, untätig und damit letztlich unfähig zu wirken, wurde alles, was das Zwangsbündnis anpackte, mit dem Etikett Reform versehen. Eine Reformitis ergriff das Land.
Wir Wähler erwiesen uns als zu duldsam. Obwohl schon in der Vergangenheit mancher Rohrkrepierer als Reform verpackt wurde, gaben wir Schwarz-Rot eine Chance. Der Punkt, an dem die Geduld der Bürger mit dieser Koalition und ihrer Kanzlerin vorerst riss, kam erst mit der Gesundheitsreform. Sie war und ist das Lehrstück für die Reformitis: CDU/CSU wie SPD wollen diese Reform nicht einmal. Sie lauern eigentlich nur auf den Wahltermin 2009 in der Hoffnung, dass ihnen dann ein anderer Koalitionspartner zur Verfügung steht, mit dem sie ihr jeweiliges Idealmodell durchsetzen können. Trotzdem zimmerten sie ein unausgereiftes Reformmonstrum zusammen. Die einzige echte Reform wäre aber der Verzicht auf diese Reform gewesen.
Jetzt, nach einem Viertel der Legislaturperiode, hat die große Koalition nicht nur ihren Kredit fast aufgebraucht, sondern auch ihre Zeit: 2007 wird von der EU-Ratspräsidentschaft absorbiert, danach ist die deutsche Politik mit dem G-8-Treffen beschäftigt. Ab dem Frühjahr 2008 befindet sich beide Lager im Dauerlandtagswahlkampf: Hessen, Niedersachsen, dann Bayern; ab 2009 denken alle nur noch an die Bundestagswahl. Bleibt die Prognose: Ihren Zenit hat die große Koalition schon hinter sich.
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