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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Christian Kucznierz zu EU/Flüchtlingspolitik

Regensburg (ots)

Gerade einmal zwei Monate ist es her, als vor Lampedusa 300 Menschen ertranken. Sie suchten ein besseres Leben und fanden den Tod vor den Toren der Europäischen Union. Der Aufschrei damals war groß. Geändert hat sich nichts. Das ist erbärmlich. Zwar startet die EU heute ihr Hightech-Grenzsystem Eurosur, mit dem Flüchtlingsbewegungen überwacht werden sollen. Auch mit dem Ziel, frühzeitig helfen zu können. Zweifel sind angebracht. Das System ist 2008 zur Bekämpfung illegaler Einwanderung geplant worden. Und eine bessere Überwachung beseitigt das Problem nicht. Niemand verlässt gerne seine Heimat, seine Familie, sein Leben. Aber manche müssen es tun. Weil sie verfolgt werden. Oder schlicht, weil Krieg, Hunger und Armut sie bedrohen. Sie fliehen tausende von Kilometern zu Fuß oder auf klapprigen Lastwagen, um sich am Ende in die Hände von Schleppern zu begeben, die sie für Tausende von Euro in überfüllte Boote verladen, von denen viele ihr Ziel nie erreichen. Und in Europa ist man insgeheim froh, wenn die Boote abgefangen oder zurückgedrängt werden, wenn sie umkehren, denn dann muss man die Frage nicht beantworten, was man mit ihnen anfangen soll. Bislang verfährt die EU nach dem Grundsatz, dass das Mitgliedsland, in dem die Flüchtlinge Asyl beantragen, auch für sie verantwortlich ist. Kein Wunder, dass Staaten wie Deutschland kein Interesse haben, etwas am bestehenden Asyl-System zu ändern. Weil es das Problem an die Grenzen auslagert, nach Italien oder Griechenland. Wie wenig es dadurch gelöst wird, sieht man an der Zahl der Menschen, die heuer über das Mittelmeer in die EU zu gelangten. Die UN zählen über 30 000. Die Zahl derer, die beim Versuch starben, kennt niemand. Und es kommen immer mehr. Aus Syrien sind mittlerweile geschätzte drei Millionen Menschen geflohen, registriert hat die UN-Flüchtlingsorgansation UNHCR bislang 2,2 Millionen, viele davon Kinder. Und Syrien ist nur ein Krisenherd von vielen in der Nachbarschaft der EU. Abschottung kann angesichts dessen keine Lösung sein. Der Kampf gegen Schleuserbanden ist wenig mehr als Aktionismus. Ja, es stimmt: Weniger Schleuser bedeuten weniger illegale Zuwanderer und weniger Tote auf dem Weg. Aber erstens ist kein Mensch illegal. Zweitens werden diejenigen, die verzweifelt sind, weiterhin versuchen, eine neue, sichere und bessere Heimat für sich und ihre Familien zu suchen. Drittens ist die EU, und nicht nur sie, gefordert, ehrlich zu sein. Die Industriestaaten müssen ihr postkoloniales Nutzdenken beenden. Es ist nicht nur so, dass die Regierungen in London, Paris oder Berlin kein Konzept haben, wie sie mit der Flüchtlingsschwemme umgehen sollen. Sie verschärfen viele der Probleme noch zusätzlich. Die Wirtschaft der EU-Staaten überschwemmt afrikanische Märkte mit Waren und verdrängt lokale Hersteller, die keine Chance gegen die billigen Importe haben. Aber nur, wenn vor Ort die Voraussetzungen geschaffen werden, dass Menschen in Sicherheit und ohne Not leben können, werden sie nicht mehr ihr Heil in der Flucht suchen. Unterdessen wird kein Weg an einer gesteuerten Zuwanderung nach Europa vorbei führen. Inmitten von Krisen und Armut ist der Kontinent eine Insel der Glückseligen. Daraus ergeben sich Aufgaben, aber auch Chancen. Viele der Flüchtlinge können und würden gerne einen Beitrag in den Ländern leisten, in denen sie ankommen. Sie sind meist jung und gut ausgebildet. Das Potenzial von Migranten im Kampf gegen Fachkräftemangel und demografischen Wandel wird bis heute vernachlässigt, Förderung und Integration beginnen viel zu spät. Starre Residenzpflichten tun ihr Übriges dazu, dass viele Flüchtlinge keine Chance bekommen, sich einzubringen. Asylpolitik heute ist auch Abschreckungspolitik. Damit muss Schluss sein. Es geht um Menschen. Nicht um Kriminelle. "Das Boot ist voll!" ist ein alter Slogan im Zusammenhang mit Asylpolitik. Ein krudes Bild. Das einzige Boot, das voll ist, ist das nächste, das vor Lampedusa stranden wird. Europa ist ein Kontinent, der über Jahrhunderte durch Flucht, Migration, Krieg und Vertreibung definiert war und von diesen Erfahrungen geprägt ist. Hier heute geboren zu sein ist Zufall, hier zu leben eine Gnade. Wenn Europa sich christlicher Werte verpflichtet sieht - und dieses Argument nicht nur dann ins Feld führt, wenn es um ein Nein zum Türkei-Beitritt geht - dann ist es unsere Pflicht, diese Gnade auch anderen angedeihen zu lassen.

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