Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Joachim Gaucks Rede
Bielefeld (ots)
Lange hat er gewartet, nicht alles hat er gewagt - und doch hat dieser Auftritt Gewicht: Bundespräsident Joachim Gauck ist keine grandiose, aber eine sehr gute Grundsatzrede zu Europa gelungen. Breit angelegt und emotionaler im Ton, als es die Kanzlerin wohl je sein wird, aber nicht so pathetisch und erst recht nicht so pastoral, wie man hätte befürchten können. Gaucks Credo: »Europa, das sind wir selbst!« Der erste Mann im Staate hat seine Worte bewusst gewählt - und dem Ernst der Lage angepasst. Von Euphorie keine Spur. Auch sein Lieblingsmotiv der Freiheit setzte Gauck wohltuend dosiert ein. Zudem widerstand er der Versuchung, in einen unsinnigen Redner-Wettstreit mit Angela Merkel einzutreten. So blieb der Zufall, dass der Bundespräsident sprach, nachdem die Bundeskanzlerin just einen Tag zuvor eine Regierungserklärung zum selben Thema abgegeben hatte, bloß eine protokollarische Fußnote. Zum Glück ging es Gauck nur um die Sache, denn die allein ist wichtig genug. Gewiss, der Bundespräsident hat vieles gesagt, was man so oder geringfügig anders schon viele Male gehört hatte. Er hat die Vorteile eines geeinten Europas aufgezählt, die kleinen und großen Konstruktionsfehler nicht verschwiegen und die Notwendigkeit weiterer Anpassungs- und Veränderungsprozesse betont. Der Kritik am institutionellen Rahmen und dem unbestreitbar fehlenden Gründungsmythos dieses Europas hat er als größtes Faustpfand den gemeinsamen und im besten Sinn zeitlosen Wertekanon entgegengehalten. Das alles ist plausibel und richtig, doch es ist auch bekannt und mithin erwartbar. Besonders gut war Gauck da, wo er uns alle als Europäer in die Pflicht nahm und in Anlehnung an den berühmten Satz des US-Präsidenten John F. Kennedy formulierte: »Frage nicht, was Europa für Dich tun kann, sondern frage, was Du für Europa tun kannst.« Besonders geschickt war er da, wo er sich speziell an seine jungen Zuhörer wandte: »Seht her, was Ihr an Europa habt und macht noch viel mehr daraus.« Die Schicksalsgemeinschaft Europa, das machte der Bundespräsident überdeutlich, fängt nicht in Brüssel an und erst recht nicht darf sie dort enden. Darum rief er speziell den Briten zu: »Wir möchten Euch weiter dabei haben.« Darum mahnte er seine eigenen Landsleute, sich der besonderen, aus der Historie erwachsenen Verantwortung bewusst zu werden, die das wiedervereinte Deutschland trägt. Und darum warnte er vor Provokationen und jeder Überheblichkeit. Am wichtigsten aber: Gaucks Versprechen an unsere Nachbarn, dass kein deutscher Politiker ein deutsches Diktat in Europa wolle. Das kam an - spontan brandete Beifall im Schloss Bellevue auf. Ein Beifall, der uns alle verpflichtet, denn der Bundespräsident hat Recht: Deutschland ist in Europa und kann nicht ohne Europa. Also sollten wir zu Europa stehen - mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten.
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