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Berliner Morgenpost: Steinmeier verpasst die Chance zum Aufbruch - Leitartikel

Berlin (ots)

Es ist eine der leichtesten Übungen dieser Tage,
über den Kanzlerkandidaten der Sozialdemokraten herzufallen, ihm 
einen dramatischen Niederschlag vorherzusagen für den Tag der 
Bundestagswahl, über sein mangelndes Charisma zu schwadronieren und 
sich im Zweifel auch noch über seine Haarfrisur lustig zu machen. Bei
Zustimmungswerten um die 20 Prozent und demoskopischen Welten 
Rückstand gegenüber der Kanzlerin ist Häme wahrlich keine Kunst. Gern
zitiert beim wohlfeilen Prügeln des angeschlagenen Kandidaten wird 
auch die Rolle Steinmeiers als Schröders Kanzleramtsminister und 
Architekt der Agenda 2010. Als habe er sich dafür zu schämen.
Hat er nicht. Die Agenda 2010 war/ist das erfolgreichste politische 
Programm der jüngeren deutschen Geschichte, sie hat das Land 
wenigstens etwas kräftiger und widerstandsfähiger gemacht und, wenn 
nicht sehr vieles täuscht, die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass
Deutschland einigermaßen wohlbehalten durch diese Weltkrise kommen 
kann. Vergleichbar erfolgreiche Manöver hat die derzeitige Besatzung 
des Kanzleramts auch nicht ansatzweise vorzuweisen. Dessen Steuerfrau
- die mehr die Kohlsche Strategie des Zuwartens adaptiert hat, als es
ihr ehrlicherweise selbst gefallen mag - im Übrigen auch nicht.
Also schaut man sich Steinmeiers Auftritt gestern Abend bei der 
Berliner Karl-Schiller-Stiftung einigermaßen erwartungsvoll an - und 
wird, wieder einmal, enttäuscht.
Nicht von dem erneut blassen Auftreten des Kandidaten, der rhetorisch
einfach nicht aus den Schuhen kommt, der gehemmt wirkt, der nicht 
überzeugt, auch wenn er immer wieder betont, überzeugt zu sein. 
Bitterer ist, dass Steinmeier inhaltlich so furchtbar vage bleibt. 
Gemessen an dem Getöse, mit dem Steinmeiers Stab im Vorfeld dieser so
genannten Grundsatzrede um Aufmerksamkeit gebuhlt hat, kommt 
Steinmeier mit einem dünnen Progrämmchen um die Ecke, das schlicht 
und ergreifend unzureichend ist als Blaupause für eine "Politik für 
das nächste Jahrzehnt". Nichts zu spüren von einer Agenda 2020, vom 
Aufbruch, den ja auch er selbst so dringend brauchte.
Jenseits der handelsüblichen Schlagworte von "Green-Tec", die man 
ebenso fördern müsse wie die Medizintechnik, bis zum "Anstand", der 
jetzt in der Politik gefragt sei; jenseits von mehr Bildung, noch 
mehr Arbeit für Millionen und einer "Allianz für den Mittelstand", 
die ziemlich stark an Schröders selig entschlafenes "Bündnis für 
Arbeit" erinnert, bleibt als konkrete Maßnahme: die Gründung einer 
neuen Software-Hochschule. Aller Ehren wert, aber für einen, der 
Kanzler werden will, war das viel zu wenig.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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