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WAZ: Neuer türkischer Präsident Gül: An den Taten messen - Leitartikel von Hendrik Groth
Essen (ots)
Sich Sorgen zu machen, ist per se keine schlechte Charaktereigenschaft. Auch sind kritische Einwände oft eher konstruktiv und keine Anzeichen von Ignoranz, Panikmache oder im Falle der Türkei von Abgrenzung. Der erste Versuch, den konservativ-islamischen AKP-Politiker Abdullah Gül zum Präsidenten zu küren, stürzte die Türkei im Frühjahr in eine Krise. Jetzt ist Gül Staatschef und die Resonanz auf seine Wahl ist positiv, sowohl im In- wie im Ausland. Vor einem halben Jahr drohte noch das Chaos, nun winkt Wohlstand und weitere Demokratisierung. Und dies trotz des Kopftuches der Präsidentengattin.
Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass das alte Establishment in der Türkei abgewirtschaftet hat. Die Armee hat mit Erpressungsversuchen ihren Zenit überschritten und die säkularen Parteien haben nicht viel zu Stande gebracht. Die Kemalisten, die sich auf Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk berufen, zeichneten sich durch destruktive Agitation aus. Weil kein Vorwurf an Gül haften blieb, musste eben das Kopftuch seiner Frau als Symbol für den vermeintlichen Ausverkauf der kemalistischen Werte dienen. Viel half das nicht. Auf die Massendemonstrationen gegen Regierungschef Tayyip Erdogan und Gül folgte ein überzeugender Wahlsieg der AKP.
Dass Gül nicht der verkappte Islamist mit einem düsteren Geheimplan zur Einführung der Scharia ist, lässt sich auch aus seinem persönlichen Verhältnis zu Außenminister Frank-Walter Steinmeier ableiten. Steinmeier, gewiss kein Mann naiven Denkens, dankte seinem Duzfreund Gül für die jahrelange, vertrauensvolle Zusammenarbeit und setzt auf die Zukunft. Wenig deutet darauf hin, dass sich Steinmeier irrt. Gül und Erdogan wollen im Gegensatz zu den alten Eliten den EU-Beitritt der Türkei. Sie wissen, dass dies nur mit weiteren Reformen und mit mehr Demokratie geht.
Die kommenden Jahre wird die Türkei unter genauer Beobachtung von EU und Nato stehen. Sollte die AKP die Hoffnungen der Menschen nicht erfüllen können, dann wird sie abgewählt werden. Ein EU-Beitritt ist dann Illusion. Hier zu Lande wird darauf hingewiesen, dass der Islam gesellschaftspolitisch dringend einer Modernisierung bedürfe, dass Europa sich über Jahrhunderte Freiheitsrechte schwer erkämpft habe. Wer dies stützt, der muss den neuen Präsidenten, wie den weiterhin viel mächtigeren Premier Erdogan, beim Wort nehmen und sie an ihren Taten messen. Denn sich auf die Religion berufende, erfolgreich regierende Konservative gibt es nicht nur in der Türkei, es gibt sie auch in Bayern.
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