Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Bundesregierung legt Armutsbericht vor: Die Kluft wird breiter - Leitartikel von Rolf Potthoff
Essen (ots)
Wilfried W. lebt in einer großen Stadt im Ruhrgebiet und zwar von 345 Euro im Monat, wobei ihm die Sozialbehörde auch die Miete für seine Einraumaltbauwohnung zahlt. Herr W. ist häufiger bei Sonderangeboten als an der Spezialitätenkühltheke zu finden. Was er gar nicht nötig hätte, weil er doch ein Nettovermögen von 133 000 Euro besitzt. Jedenfalls statistisch, wie sich aus dem 2. Armuts- und Wohlstandsbericht der Bundesregierung ergibt. Auch andere Daten sind mehr Mathematik, als dass sie tatsächliche Lebenslagen erhellen. Es bringt auch nicht weiter, über 938 Euro als vermeintliche Armutsgrenze zu streiten. Ebenso müßig ist die übliche Betrachtung, nach der es selbst den ärmsten der Armen hierzulande besser geht als der großen Masse in Ländern der Dritten Welt. Kann denn jemand ernsthaft diese Binse mit einem Argument verwechseln, um zu sagen: Hier wird niemand verhungern! Was wohl niemanden überrascht. Was bei der Bewertung der Studie zählt, ist anderes. Erstens, dass die rot-grüne Bundesregierung Mut fand, die Licht- und Schattenseiten der Republik regelmäßig zu bilanzieren. Diesen Mut fand die Vorläuferregierung nicht. Zweitens sind nicht Zahlen entscheidend. Es ist die Tendenz: Die Kluft zwischen Teilhabern am satten Wohlstand und denen, die jeden Euro umdrehen müssen, wird größer. Der Kreis der ins Armutsrisiko Hineingezogenen wächst. Die Chancen der Verlierer des Umbruchs, aus eigener Kraft rasch wieder bessere Zeiten zu erleben, schwindet dahin. Und das ist das Gegenteil dessen, was Rot-Grün erreichen wollte, seit es regiert. Dennoch: Der Bericht darf nicht zum Schüren von Neid missbraucht werden. Auch ist er kein Anlass, die Reformpolitik im Grundsatz infrage zu stellen. Sie ist unumgänglich. Doch darf die Politik nicht zulassen, dass sich die Schief-lage in dieser Republik weiter verfestigt. Dass sich immer mehr Menschen abgeschoben, ausgegrenzt sehen. Eine Politik, die dies zulässt, riskiert den Zerfall der Gesellschaft.
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