Westdeutsche Allgemeine Zeitung
WAZ: Nach dem Nein der Franzosen zur EU-Verfassung: Es lebe Europa! - Leitartikel von Uwe Knüpfer
Essen (ots)
Es war ein Fehler, die Europäische Union um zehn Staaten zu erweitern, ohne sie zuvor regier- und verstehbar gemacht zu haben. Es war ein Fehler, nach der Ost-Erweiterung weitere Beitritte in die Wege zu leiten, ohne die EU wenigstens jetzt zuvor regier- und verstehbar gemacht zu haben. Es war ein Fehler, die europäische Idee auf offene Grenzenund freien Handel zu reduzieren; so konnte der Verfassungsvertrag in den Augen seiner Kritiker zum Symbol für Lohndrückerei und Sozialabbau werden. Der Versuch, der Europäischen Union ein Grundgesetz zu geben, ist vorerst gescheitert. Wenn darin etwas Gutes liegt, dann die Chance, die oben beschriebenen Fehler zu beheben. Europa war, als es in den 1950er Jahren zu werden begann, eine Kopfgeburt. Erfahrene und deshalb vorausschauende Politiker und Technokraten hatten erkannt, dass es für diesen Kontinent nur eine wirksame Impfung gegen die Pest des militaristischen Nationalismus gab. Diese Impfung bestand in einer zunehmenden Verflechtung der Wirtschaftsräume, in der schleichenden Verlagerung von Staatsgewalt aus den Hauptstädten nach Brüssel. Europa begann mit der EGKS, der Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Technokratischer kann sich eine Friedensbewegung kaum geben. Das Rezept ging auf. Europa wurde von einer Idee zur Alltäglichkeit. Menschen, nicht nur Waren, überwanden Grenzen. So wirksam war die Impfung, dass sich Heutige schwer vorstellen können, wie sich Franzosen und Deutsche in Schützengräben gegenüber lagen. Oder wie mühsam es noch vor 30 Jahren war, die Grenze zwischen NRW und den Niederlanden zu passieren. Und erst recht die Grenze, die durch Deutschland ging. Was uns heute selbstverständlich erscheint, ist alles andere als selbstverständlich. Europa ist friedlich, zivil und tolerant, weil Euro- und Technokraten nie nachgelassen haben, die Integration voranzutreiben. Bis hin zu diesem Vertrag. Gescheitert sind sie jetzt an ihrem eigenen Erfolg. Mit Nein haben in Frankreich ja nicht nur rückwärtsgewandte Nationalisten gestimmt, sondern gerade auch Anhänger der europäischen Idee. Ihnen ist die Verfassung nicht demokratisch, nicht sozial, sprich: nicht europäisch genug. Sie haben Angst vor einer raschen EU-Erweiterung, weil ihnen um Europa bange ist, nicht vor der Türkei. Diese Menschen nicht mitgenommen zu haben auf dem Weg zur Verfassung, darin liegt das Versagen der Eurokraten und der politischen Eliten. Wenn sie daraus nicht Konsequenzen ziehen, droht die Impfung gegen den Nationalismus ihre Wirkung zu verlieren. Ein Dom, an dem nicht ständig gebaut wird, verkommt zur Ruine. Wenn die EU zur Ruine verkommt, nisten sich in Europa bald wieder die Gespenster der Vergangenheit ein. Die kommen, das möge bitte niemand vergessen, blutrot, vor allem aber braun daher.
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