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WAZ: Gerds Show wirkt, die Union wird unsicherer: Wenn plötzlich alles möglich ist - Leitartikel von Ulrich Reitz

Essen (ots)

Einige Spitzenleute in der Union, denen die von
Merkel mehr oder weniger beherzt intonierte Reform-Agenda
grundsätzlich nicht passt, werkeln verstohlen am Ende von Kirchhof,
dem Ober-Reformierer. Das Szenario: Stoiber reklamiert das Außenamt
doch noch für sich, dann wäre der FDP das Finanzministerium nicht zu
verweigern, womit der liberale Steuer-Experte Solms zum Zuge käme -
und Kirchhofs Platz wäre dahin. Kann so sein, muss es aber nicht.
Eins scheint jedenfalls klar: die Nervosität der Union wird auf den
letzten Metern dieses seltsamen Wahlkampfes wachsen. Nicht nur, weil
die SPD unter dem Eindruck der Gerd-Show dann doch noch deutlicher
zulegt, und zwar nicht zu Lasten der Grünen. Sondern auch, weil in
der Union noch immer nicht klar ist, wieviel Umbau man am Ende denn
wirklich wagen soll. Immerhin bedeutet, was Merkel propagiert, eine
Abkehr von der Kohl-CDU. Merkel bewegt sich innerhalb der Volkspartei
Union nicht in der Mitte, sondern am liberalen Rand. Deshalb auch die
weitgehend konfliktfreie Beziehung zur FDP. Wobei die liberale Vision
beider, Merkels wie der Liberalen, einen Namen hat: eben Kirchhof.
Nun ist die Union keine einheitliche Veranstaltung. Die CDU-
Ministerpräsidenten bewegen sich in der hergebrachten Volkspartei-
Tradition Adenauers und Kohls. (Schon für Adenauer war Erhard viel zu
liberal.) Die CSU wiederum ist die sozialdemokratischste Partei neben
der SPD - gerade bekommen die Sozialdemokraten in Bayern kein Bein an
die Erde. Die CSU-Granden stehen programmatisch Sozialdemokraten
näher als den Liberalen, wobei Westerwelles Lebensstil die Abneigung
durch die Laptop- und Lederhosen-Partei noch vergrößert. Die
Unsicherheiten hinterlassen Spuren, produzieren Schwächen,
provozieren Fehler. Die Union schafft es nicht, Kirchhofs Grundidee
unters Volk zu bringen; stattdessen lässt sie sich vom Gegner über
Kirchhofs geheimnisvolle Steuer-Liste in die Defensive treiben. Es
zeichnet sich ab, dass die Verunsicherung im bürgerlichen Lager bis
zur Wahl wächst. Weil die Umfragen plötzlich alles möglich machen:
noch knapp Schwarz-Gelb, stärker wieder eine große Koalition, aber
auch eine Schwarze Ampel - als Alternative zu Rot- Rot-Grün. Politik
ist ein dynamischer Prozess; das Ende ist wieder offener denn je.

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