Landeszeitung Lüneburg: Interview mit Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU)
Lüneburg (ots)
Der gewaltsame Tod von acht Kindern schockiert das Land. Nur wenige Tage zuvor war wieder ein kleines Mädchen verhungert. Andere vernachlässigte Kinder konnten die Behörden rechtzeitig in ihre Obhut nehmen. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hält den Ruf nach schärferen Gesetzen zum Schutz von Kindern dennoch für falsch.
Über Kinder- und Familienpolitik wird in anderen Ländern deutlich entspannter diskutiert als hierzulande. Im Ausbau der Krippenplätze sehen einige Konservative den Untergang des Abendlandes, warnen vor "sozialistischen Verhältnissen". Die Debatten werden geführt mit Begriffen wie "Rabenmütter", "Herdprämie" und "Gebärmaschinen". Warum diese Verbissenheit? Ursula von der Leyen: Wir haben zu lange scharf polarisiert, ein schlechtes Gewissen in die Familien hineingetragen, mit der Folge, dass junge Menschen schroffe Entscheidungen treffen mussten: Entweder Verzicht auf Kinder, wenn sie ihren Beruf weiter ausüben wollen, oder Verzicht auf den Beruf, wenn sie sich Kinder wünschen. Wir bezahlen das heute mit dem hohen Preis der Kinderlosigkeit und einem Beginn des Fachkräftemangels. Die Lösung, die andere Länder früher verstanden haben, ist: nicht sagen, was nicht geht, sondern fragen, was junge Menschen brauchen, um in einer modernen Welt Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu können. Warum wird diese Debatte in Deutschland so emotional geführt? Von der Leyen: Wir haben eine lange Tradition sehr starrer Rollenzuweisungen für Männer und Frauen. In den 90er-Jahren, als unsere europäischen Nachbarn von Frankreich bis nach Skandinavien verstanden haben, dass wir in Zukunft nur Kinder haben werden, wenn es eine gemeinsame Aufgabe von Männern und Frauen ist, waren wir vollauf beschäftigt mit dem Thema der Wiedervereinigung. Und deshalb haben diese gesellschaftlichen Debatten hier fast gar nicht stattgefunden. Mit sieben Kindern verkörpern Sie das klassische Mütterbild, zugleich sind Sie eine Vorzeige-Karrierefrau. Ist Ihre Biografie für eine Familienmi"nis"terin der CDU ein Vor- oder eher ein Nachteil? Von der Leyen: Unter dem Strich ist für die CDU entscheidend, welche Politik eine Familienministerin macht. Viele Lebenserfahrungen, die mein Mann und ich mit den Kindern gemacht haben, fließen natürlich auch in den praktischen Politik-Alltag ein. Das muss aber immer gekoppelt sein mit ganz wachsamer, auch wissenschaftlicher Analyse dessen, was im Rest der Welt passiert: Wer hat Antworten gefunden auf die Frage, auf welche Weise familiäre Werte wie Vertrauen und Verlässlichkeit in der Moderne gelebt werden können, welche Rahmenbedingungen dafür nötig sind in einer globali"sierten Welt. Diese Mischung ist entscheidend für eine gute Familienpolitik. Schwächt die Reform des Unterhaltsrechtes die Institution Ehe? Von der Leyen: Nein, im Gegenteil. Ehen scheitern, wenn die Paare sich weit auseinander bewegen, und vor allem dann, wenn einer abhängig wird vom anderen. Politik muss deutlich machen, dass Väter und Mütter gemeinsame Pflichten haben, sowohl in der Kindererziehung als auch beim Lebensunterhalt. Es gehört untrennbar zur Moderne, dass Männer und Frauen auf eigenen Füßen stehen wollen. Der Mut zu mehr Kindern hat auch mit der Gewissheit zu tun, dass es nicht Abhängigkeit ist, die Paare zusammenhält, sondern Liebe und Respekt voreinander. Wichtig ist, die Kindererziehung oder auch die Pflege älterer Angehöriger als eine Aufgabe zu sehen, die nicht nur für Frauen reserviert ist, sondern bei der Männer genauso leidenschaftlich Rechte, aber auch Pflichten haben. Auch mit den Plänen für ein Familiensplitting rütteln sie an einem Heiligtum konservativer Familienpolitik. Den CDU-Vorstand hatten Sie inzwischen überzeugt, wie es hieß. Nun sagt Ronald Pofalla, das Ehegattensplitting bleibt "komplett erhalten". Wird es nun doch keine steuerliche Umschichtung zugunsten von Familien mit Kindern geben? Von der Leyen: Das Ziel des Familiensplittings ist, die Kinder-Komponente stärker auszubauen. Das bedeutet, nicht danach zu fragen, wo die Kinder leben, sondern dafür zu sorgen, dass derjenige, der Kinder großzieht, mehr von seinem selbst verdienten Einkommen behält. Der Ausbau einer starken Kinder-Komponente ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Kinder Vorrang haben. Also das Familiensplitting kommtu Von der Leyen: Man kann das eine mit dem anderen völlig unkompliziert verbinden, wie man zum Beispiel in Frankreich sehen kann. Sie sind keine Befürworterin des geplanten Betreuungsgeldes für die häusliche Kindererziehung. In ihrer jüngsten Studie "Babies and Bosses" hat die OECD solche Zahlungen als "desaströs" bezeichnet. Dennoch ist das Betreuungsgeld im neuen Grundsatzprogramm festgeschrieben wordenu Von der Leyen: Die OECD-Studie besagt vor allem, dass Deutschland kräftig in den Ausbau der Kinderbetreuung inves"tieren muss. Dies ist jetzt fest verankert -- zwölf Milliarden Euro in den kommenden sechs Jahren und ein Recht auf einen Kindergartenplatz für unter Dreijährige ab 2013. Die Verabredung im Koalitionsausschuss war, und daran halte ich mich auch, dass ab 2013 auch ein Betreuungsgeld kommen soll. Der erste Schritt ist ein qualitativ guter Ausbau der Betreuung. Über 2013 reden wir dann, und nicht schon heute. Wir sollten bei der Diskussion über eine ferne Zukunft die Gegenwart nicht aus den Augen verlieren. Die OECD sagt außerdem, das Kindergeld muss nicht erhöht, sondern nur weiser eingesetzt werden. Muss die Konsequenz nicht eine Staffelung auch beim 2. und 3. Kind sowie eine Abschaffung der Freibeträge sein? Von der Leyen: Die Abschaffung von Freibeträgen ist verfassungsrechtlich nicht möglich, denn damit würde man das Existenzminimum von Kindern besteuern. Aber wir müssen das Kindergeld in der Tat gezielter einsetzen. Das Kindergeld wird nur gezahlt für die kleinen und mittleren Einkommen. Für Hartz-IV-Empfänger gibt es das höhere Sozialgeld, bei höheren Einkommen die ebenfalls höheren Freibeträge. Weil das Kindergeld so wichtig ist für Familien mit geringem Einkommen, besonders, wenn sie viele Kinder haben, plädiere ich für ein gestaffeltes Kindergeld. Statt auf jugendliche Lockvögel an den Tresen setzen Sie nun auf Bußgelder bei Verstößen gegen den Jugendschutz. Ein Bußgeldkatalog steht und fällt mit den Kontrollen. Wie soll das konkret organisiert werden? Von der Leyen: Wir haben einen Maßnahmenkatalog mit sieben Punkten verabschiedet. Wichtig ist, diejenigen zu unterstützen, die sich an das Jugendschutzgesetz halten wollen. Das bedeutet Schulung des Personals sowie Kassensysteme, die akustische Signale geben, wenn eine Zigarettenschachtel oder Schnapsflasche über die Ladentheke geht, damit die Kassiererin aufschaut und nach dem Alter der Jugendlichen fragt. Und natürlich muss man versuchen, die "schwarzen Schafe" unter den Händlern zu erwischen und zu belangen, um deutliche Signale zu setzen. Hier möchte ich vor allem die Stichpunkte Schwerpunktkontrollen und Bußgeldkatalog hervorheben. Sie haben gesagt, die kürzlich verhungerte Lea-Sophie (7,5 Kilo) könnte noch leben, wenn die vorhandenen Sicherheitsmechanismen gegriffen hätten. Wenn diese Mechanismen aber versagen, spricht das dann nicht für Pflichtuntersuchungen? Von der Leyen: Pflichtuntersuchungen sind verfassungsrechtlich problematisch. Den richtigen Weg geht jetzt das Land Niedersachsen mit dem so genannten verbindlichen Einladungswesen. Dort werden alle Eltern zur Vorsorgeuntersuchung gebeten. Wer nicht kommt, zu dem geht das Jugendamt. Erfahrungsgemäß kommen dann 90 Prozent der Nachzügler, die vorher fehlten. Bei den übrigen zehn Prozent ist es gut und richtig, dass das Jugendamt in die Familien geht und direkt nachschaut. Bei Lea-Sophie hat das Sozialamt nicht genau genug hingeschautu Von der Leyen: In diesem Fall ist die einfachste Regel nicht eingehalten worden: das Kind anschauen! Die Familie war als problematisch bekannt. Wenn Eltern auf die Frage, wo das Kind ist, antworten, es sei bei Verwandten, muss man hartnäckig sein und darauf bestehen, das Kind zu sehen. Man muss wissen, dass Eltern wie die von Lea-Sophie Verdeckungsstrategien entwickeln und notorisch lügen. Wir müssen in der Jugendhilfe in Zusammenarbeit mit den Kinderärzten den Blick für die Alarmsignale schärfen und nicht immer nach neuen Gesetzen rufen. Vor allem müssen wir selbstkritisch Fehler benennen, nur dann lassen sie sich systematisch vermeiden. Diesen Lernprozess unterstützen wir mit im Bund durch das Zentrum für frühe Hilfen. Laut "Kinderreport 2007" gilt trotz guter Konjunktur jedes sechste Kind in Deutschland als arm. Welches sind die dringendsten Maßnahmen, um dem entgegenzuwirken? Von der Leyen: Das ist ein beschämendes Phänomen. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens: Alleinerziehende finden keine Arbeit, weil die Kinderbetreuung fehlt. Wir sind dabei, dies zu ändern. Zweitens sind viele Kinder arm, weil in der Familie über mehrere Generationen Bildungsarmut herrscht. In diesem Fall hilft den Kindern nur die frühe Bildung. Auch hier spielt der Kindergarten eine bedeutende Rolle, damit die Kinder dann in der Schule erfolgreich sein können. Drittens leben Kinder in Armut, wenn sie aus kinderreichen Familien kommen, weil zwar beide Elternteile arbeiten, aber das Geld nicht für alle Kinder reicht. Hier ist der Kinderzuschlag ein ganz wirksames Instrument, um den Arbeitswillen der Eltern zu unterstützen und die Kinder aus Hartz IV herauszuholen. Können Sie Eva Hermans Äußerungen über die Familienpolitik der NS-Zeit nachvollziehen? Von der Leyen: Nein. Sie haben in Lüneburg kürzlich ein Mehrgenerationenhaus besucht, das auch vom Bund gefördert wird. Können Sie sich vorstellen, selbst mit Ihrer Familie eine solche Einrichtung zu nutzen? Von der Leyen: Ich wünsche mir fürs Alter -- falls meine Kinder nicht in der Nähe wohnen -- dass es ein Mehrgenerationenhaus gibt, weil ich dort junge Menschen um mich haben könnte. Wenn man die Zeit und Kraft hat, gibt es nichts Schöneres, als Kindern und Jugendlichen einen Teil seiner Erfahrungen zu geben und natürlich ganz viel zurückzubekommen, was mit Geld nicht zu bezahlen ist. Das Gespräch führte Klaus Bohlmann
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