Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Afghanistan
Bielefeld (ots)
Afghanistan hat die Wahl in dramatischer Lage. Im Juli starben 76 Nato-Soldaten und auch die Zahl ziviler Opfer ist so hoch, wie seit der Vertreibung der Taliban 2001 nicht mehr. Die Islamisten kontrollieren weite Landstriche, noch mehr Tote und Verletzte sind in den kommenden Tagen mehr als wahrscheinlich. Wahnsinn, jetzt zu wählen! Allerdings: In den zwei Jahrzehnten davor, während der sowjetischen Besatzung und des anschließenden Bürgerkriegs war das Land noch unsicherer als heute. Bis zu zehn Millionen Afghanen flüchteten damals nach Pakistan und in alle Welt. Wenn also Demokratisierung, dann jetzt das Nötige durchsetzen. In Kabul herrscht fast normales Leben wie in anderen Metropolen Vorderasiens auch. Mit der Wahl verbinden sich Hoffnung auf Stabilisierung und bescheidenen Wohlstand. Einzig die nicht unwahrscheinliche Wiederwahl des korrupten Präsidenten Hamid Karsai stört die Aussicht auf vielleicht sogar demokratische Zeiten. Der elegante Paschtune mit der grauen Fellkappe könnte im ersten Durchgang mehr als 50 Prozent schaffen - in der Wahlkabine oder mit Nachhilfe bei der folgenden Auszählung, um deren Neutralität gefürchtet werden muss. Kommt es zur Stichwahl, steigen die Chancen des Herausforderers Ex-Außenminister Abdullah Abdullah. Karsai hatte das Blaue vom Himmel versprochen, aber weder Frieden noch echten Neuanfang geliefert. Die Afghanen sahen 2004 in ihm den Modernisierer, haben aber traditionelle Regierungsmethoden bekommen. Statt Parlamentsentscheidungen zählen Beziehungen, Vetternwirtschaft und Hinterzimmerabsprachen. Karsai betreibt Politik als Ausgleich von Claninteressen, wo gute Beziehungen zu den Stammesältesten zählen. Dass er den berüchtigten Warlord Abdul Raschid Dostum jetzt auch noch in sein Team geholt hat, kann die Afghanen kaum überraschen. Wirtschaftsleistung, Arbeitslosenquoten oder gar Gleichberechtigung spielen in dieser Welt keine Rolle. Dafür verschwinden seit Jahren Millionen-Beträge zur Modernisierung der Gefängnisse, für die Karsai dem Westen gegenüber persönlich die Verantwortung übernommen hat. Wer sich den Zustand 2009 anschaut, erkennt kaum Unterschiede zu 2001. Nur eines ist anders als zu Taliban-Zeiten. Die Zahl junger Frauen unter den Häftlingen ist auffällig hoch. Ihr sexueller Missbrauch im großen Stil ist bekannt. Hohe Nato-Offiziere klagen inzwischen ganz offen über dies eine Beispiel. Allein, es ändert sich nichts. Für die jüngeren Afghanen - zwei Drittel sind höchstens 30 Jahre alt - geht es um die Befreiung aus einer Welt von gestern. Sie kennen richtige Demokratie aus dem Internet. Sie wollen Rechenschaft abgelegt sehen und mit ihrer Stimme etwas bewirken. Der Westen setzt deshalb hohe Hoffnungen in ihr Stimmverhalten und ihren Mut, sich trotz Drohungen ins Wahllokal zu begeben.
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