Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Inobhutnahmen
Bielefeld (ots)
Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes sprechen eine deutliche Sprache. Der mit Abstand häufigste Grund für Inobhutnahmen der Jugendämter ist die Überforderung der Eltern oder eines Elternteils: in mehr als 40 Prozent der Fälle, in einigen Bundesländern sogar in mehr als der Hälfte. Der Zusatz »...oder eines Elternteils« ist dabei von besonderer Bedeutung, spiegelt er doch eine wesentliche gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre. Denn immer mehr, vor allem junge Alleinerziehende sind mit der Aufgabe, Beruf, Haushalt und Erziehung der Kinder unter einen Hut zu bringen, überfordert. Das fehlende Angebot an Betreuungsplätzen für unter Dreijährige verschärft die Situation. Nicht von ungefähr ist gerade die Zahl der Inobhutnahmen von Kleinkindern in diesem Alter exorbitant gestiegen. Wo keine Betreuung vorhanden, da gibt es auch häufig keine Möglichkeit zur Erwerbsarbeit. Das Abrutschen in Hartz IV ist programmiert. Keine guten Aussichten für eine unbeschwerte Kindheit. Es sind die sich stark verändernden sozialen Bindungen, die vor allem in Ballungszentren die traditionelle Kleinfamilie zum Auslaufmodell machen. Man sollte keiner Sozialromantik erliegen und diese zum alleinigen Garanten für eine glückliche, behütete Kindheit ausrufen. Allerdings scheint es tatsächlich so, dass dort, wo ein festeres soziales Gefüge besteht, die Chancen auf eine Unversehrtheit des Kindes ungleich größer sind - sei es nun in einer Groß-, Klein- oder Patchworkfamilie. Das zeigen die regional deutlichen Unterschiede. Allein in den Großstädten Berlin und Hamburg werden jeweils erheblich mehr Kinder in Obhut genommen als in ganz Rheinland-Pfalz. Egal aber, ob nun in der Provinz oder in der Metropole: So sehr der statistische Anstieg von Kindeswohlverletzung schmerzt, er ist auch Beleg, dass vor Ort genauer hingeschaut wird. So genannte aufsuchende Elternkontakte direkt nach der Geburt sind mittlerweile Standard bei vielen Jugendämtern. Genau deshalb steigen die Zahlen. Sie sind nicht automatisch Anzeichen für eine verrohende Gesellschaft, sondern Abbild offenbar schon lange existierender Verhältnisse - so bitter das auch ist. Neben der akuten Hilfe der Inobhutnahme ist aber vor allem eine langfristig angelegte, perspektivische Unterstützung gefragt. Hierbei müssen das Jugendamt, Kindergärten, Schulen, Kinderärzte und alle dem Kindeswohl verpflichteten Stellen mit den Eltern zusammenarbeiten. Damit dies überall gleich gelingen kann, bedarf es eines Bundeskinderschutzgesetzes. Noch von der Großen Koalition geplant, wurde es im Wahlkampf zerredet. Dieses könnte beispielsweise den Jugendämtern ermöglichen, bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung auf das Bundeszentralregister zuzugreifen. Angeblich für Herbst ist ein neuer Referentenentwurf des Gesetzes angekündigt - ein längst überfälliger Schritt.
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